Warten auf den Monsun
kracht. Der Soldat, von dem Peter weiß, daß er versessen ist auf Schokoladentorte und noch nie ein Mädchen geküßt hat, fällt ihm tot vor die Füße. Er bückt sich, will den Jungen aufheben, er kann nicht glauben, daß er tot ist, als der kleine Japaner mit den nackten Füßen ihm in gebrochenem Englisch zublafft: »Setz hin ich dich schieß!« Augenblicklich begreift Peter, daß der Japaner alles verstanden hat, was sie sich mit ihrem Stöhnen mitgeteilt haben, und daß er von Glück sagen kann, daß er noch lebt.
Der tote Benjamin starrt mit dem einen noch vorhandenen Auge glasig auf Peter. Er wollte sie nur begrüßen. War das die Strafe für den Fluchtplan, den er sich nur ausgedacht hatte, um ihre Durchhaltekraft zu stärken? Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite vor der Einfriedung, sitzt ein britischer Soldat, offenbar schon etwas älter, der wie sein toter Kamerad keine Jacke mehr trägt und sich pausenlos an den Armen und am Hals kratzt. Peter möchte ihm gern sagen, daß er gerade das nicht tun darf, weil er damit die Gefahr von Geschwüren und Infektionen noch erhöht, aber keiner traut sich mehr, zu reden, auch er nicht. »Jetzt bist du Hauptmann«, hatte der Major in Neu-Delhi gesagt. Er hatte ein Kuvert mit drei Sternen bekommen, die er sich selbst auf die Uniformjacke nähen mußte. Das war für ihn schwieriger gewesen als das Nähen einer Operationswunde. Er blickt auf die Männer um sich herum und wird sich bewußt, daß er nun der Ranghöchste ist und die damit verbundene Verantwortung tragen muß. Er nimmt sich vor, nicht aufzugeben. Er wird dafür sorgen, daß die Männer ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen.
Eine Krähe kündigt ihre Ankunft mit heiseren Schreien an. Der pechschwarze Vogel läßt sich neben der Leiche nieder, die in der Hitze schon in Verwesung übergeht. Peter schnippt ein Steinchen zu der Krähe. Sie flattert kurz auf, stürzt sich dann aber auf die offene Wunde, wo vor kurzem noch das Auge war. Je schneller das verfaulende Fleisch beseitigt wird, umso besser für die Gesundheit der Männer, die hier sitzen. Peter vermutet, daß die Japaner den Leichnam absichtlich liegen lassen, als Teil ihrer Quältaktik. In der extremen Hitze wird es schnell gehen, aber selbst eine Woche ist zu lang – die erschöpften Männer sind schwach und werden noch kränker werden, als sie schon sind. Die Fliegen, die in großer Zahl auf dem Leichnam sitzen, werden sich schließlich auch auf sie stürzen. Wenn er die Hose von dem Körper herunterziehen könnte, würde der Verwesungsprozeß viel schneller ablaufen.
Nach fünfzig Stunden ohne Schlaf und Wasser nimmt Peter den kleinen Japaner mit dem Gewehr nur noch durch die dunstige Glut vor seinen Augen wahr. Trotzdem weiß er, daß der Mann ihn beobachtet. Er senkt den Kopf, zieht seinen Fuß zu sich hin und beginnt, den Schmutz aus den Wunden zu pulen. Er macht es mehr nach Gefühl als nach Sicht, denn über allem liegt der glasige Schleier. Als er glaubt, fertig zu sein, reibt er so lange mit der Zunge gegen seinen Gaumen, bis sich etwas Speichel bildet, den er in seine Hand spuckt und mangels Desinfektionsmittel in die Wunden reibt. Der Soldat neben ihm ist kurz verblüfft, als er wortlos dessen Fuß packt und zu säubern beginnt. Peter vergißt Durst und Hunger. Er fühlt nur den großen, behaarten Fuß mit den Schrammen und Schnitten.
Einer der Japaner sieht interessiert zu, wie der Hauptmann stumm die Wunden an den Füßen seiner Soldaten säubert, nur bei dem älteren Briten nicht, denn der trägt noch immer seine Stiefel. Nachdem er alle verletzten Füße gereinigt hat, kriecht der Hauptmann zu der Leiche des Soldaten. Der Finger des Bewachers fährt zum Abzug, aber der Brite packt die Arme und Beine des toten Soldaten und legt den Körper gerade hin.
Die Totenstarre hat sich in der extremen Hitze schneller wieder gelöst, als es normalerweise der Fall wäre, und so kann Peter den Körper ohne großen Kraftaufwand aus der gräßlichen Haltung ziehen, in der er seit dem Sturz lag. Die Fliegen brummen. Er fühlt, daß der grünlich angelaufene Körper weich wird und die Verwesung viel schneller als erwartet vor sich geht.
Da der tote Soldat, so wie er, lange nichts gegessen hatte, ist ihm die Hose viel zu weit und läßt sich leicht abstreifen. Peter kommt der Gedanke, daß er den Stoff benutzen könnte, um die Füße der Männer damit zu verbinden. Zwischen den fetten, penetranten Fliegen auf der Brust sieht er ein kleines Kreuz
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