Warten auf den Monsun
schweigend zu, und als kein Schuß und kein japanisches Gebrüll folgte, hatte der Mann dem Toten auch die Hose ausgezogen. Dann legte er den Körper gerade hin, Beine und Arme gestreckt. Es war ihm sogar gelungen, die Hände auf der Brust zu falten, bevor er mit der Hose und den Stiefeln an seinen Platz zurückgekrochen war.
Victor wunderte sich, daß keiner der Männer protestierte, als der Hauptmann sich die Stiefel nahm, aber er war natürlich der Ranghöchste, und er selbst hatte ja auch oft auf seine Streifen gepocht.
Bei Sonnenaufgang zeigt sich, daß es nicht nur auf der Leiche von Kleinlebewesen wimmelt, sondern auch in ihr. Aus Mund und Nase kriechen kleine weiße Maden, an denen sich die Krähen laben, während für die Gefangenen auch jetzt weder Essen noch Wasser gebracht wird. Die Männer versuchen sich mit ihren Hemden vor der Sonne zu schützen, bis auf den Hauptmann, der den ganzen Tag damit beschäftigt ist, die Nähte der Hose mit einem Stein aufzutrennen. Sein Nachbar trägt, zu Victors Erstaunen, die Stiefel. Am Ende des Tages hat der Hauptmann ein paar lose Stücke Stoff, und der grüne Soldat hat sich in einen aufgeblasenen Ballon verwandelt; alle hoffen, daß er nicht auseinanderplatzt.
Am späten Nachmittag des dritten Tages – noch immer wurde kein Wort gesprochen – schiebt einer der Japaner einen zerbeulten Topf mit grau ausssehendem Wasser unter der Umzäunung durch. Die Männer schießen darauf zu. Fast kommt es zu einem Kampf, wer zuerst trinken darf, bis der Hauptmann ruft, daß sie alle an die Reihe kommen. Victor Bridgwater ist froh, daß niemand in ihm den Major sieht, er wartet, bis er an der Reihe ist, und trinkt.
1995
Rampur
Sie tanzte die Treppe hinab, die Stoffe reichten für mindestens dreißig Kleider. Sie würde ihn bitten, ihr auch eine neue Bluse zu nähen, und einen Rock. Sie hatte noch irgendwo ein Stück Spitze und rote Knöpfe – oder würde er das zu altmodisch finden? Sie würde ihn bitten, das Abendkleid hinten länger zu machen als vorn. Sie hätte schon immer gern ein Abendkleid mit einer kleinen Schleppe getragen. Oder war das vielleicht unmodern? Sie würde sich die Modezeitschriften ausleihen, die im Club lagen, die könnten sie zusammen nach etwas Schönem durchblättern. Er würde wissen, was ihr am besten stand. Sie hatte nun genug Auswahl. Sie würde ihn bitten … Charlotte erschrak. Unten an der Treppe stand Madan. Stand er schon lange dort? Was wollte er? Warum war er nicht bei seiner Arbeit?
»Schnüffelst du mir hinterher?« fragte sie in scharfem Ton.
Nein, ich hatte gehört, daß du da bist.
»Deshalb brauchst du aber nicht aus dem Klavierzimmer herauszukommen.«
Darum bin ich nicht von meiner Arbeit aufgestanden .
»Ach so! Und warum dann?«
Weil du mich darum gebeten hast.
»Ich habe dich um nichts gebeten.«
Sorry, dann war es ein Mißverständnis. Madan drehte sich um und ging wieder ins Klavierzimmer.
Geh nicht weg, flehte Charlotte unhörbar.
Madan blieb stehen. Du w illst, daß ich bleibe?
Sie blickte auf den Rücken des Mannes, der sie, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war, in Verwirrung brachte. Ja, bleib bei mir. Nein, geh.
Er rührte sich nicht. Was willst du? fragte er.
»Nichts«, sagte ihre Stimme, und ihre Gedanken riefen: Dich .
Madan ging ganz langsam ins Klavierzimmer und schloß vorsichtig die Tür.
Charlotte wäre am liebsten hinter ihm her gestürmt. Hatte er sie nicht gehört? Hatte sie es nicht gedacht? Er konnte doch ihre Gedanken lesen! Er wußte doch inzwischen bestimmt, welche Gefühle sie für ihn hatte? Sie entfernte sich von der geschlossenen Tür. Sie war zu weit gegangen. Sie hatte genau das gedacht, was zu denken sie sich verboten hatte, und er hatte nicht geantwortet, er hatte nur die Tür geschlossen.
Sie hatte ihn nicht gehört! Es war ihm gelungen, die Tür gerade noch rechtzeitig zu schließen. Ich habe dich verstanden! schrien seine Gedanken. Alles, was du fühlst, habe ich gehört . Er kroch unter den Tisch, so weit weg von der Tür wie möglich. Er hatte Angst, daß seine Gedanken zu stark waren, daß die dicke Holztür nicht genug Widerstand bot. Er zog die Stoffe, die die Damen gebracht hatten, vom Tisch und band sie sich hastig um den Kopf. Sie durfte nicht hören, was er dachte. Seine Hand tastete nach oben zu dem Kleid, das fertig war, er schüttelte es vom Bügel und zog es sich auch noch über den Kopf. Er rollte sich zusammen und schlug die Arme um
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