Warten auf den Monsun
sich etwas in ihm verändert. Ein sentimentales Gefühl wallt in ihm auf, das er bei den jungen Burschen so verabscheut, also schüttelt er diese Gedanken von sich ab.
Woher sie alle kommen, kann sich Victor nicht erklären, aber mit einem Mal taucht ein ganzer Pulk Japaner auf. Die Umzäunung wird geöffnet, und sie stoßen eine kleine Gruppe britischer und indischer Soldaten hinein, mehr tot als lebendig. Der Gefreite steht begeistert auf und will die Männer begrüßen. Sie lassen ihn nicht mal seinen Satz zu Ende sprechen, eine Kugel bohrt sich gnadenlos in sein Gesicht. Er fällt tot zu Boden. Niemand wagt es, noch ein Wort zu sagen.
Beim Licht des Halbmondes schauen die Männer auf den toten Körper, der in ihrer Mitte liegt. Keiner hat ihn angefaßt, nachdem ein erster Versuch sofort bestraft wurde. Keiner schläft, nicht wegen der Stechmücken, sondern weil sie alle davon überzeugt sind, daß ihr Leben zu Ende ist, sobald sie die Augen schließen.
Die Mücken sind den Fliegen gewichen, die beim ersten Morgenlicht den Leichnam des Gefreiten finden, den zuvor schon die Ameisen entdeckt hatten, die sich in großer Zahl einfinden. An Victors Fuß vorbei marschiert der Zug Hautflügler zu dem Toten. Was diese Sammler sich holen, weiß er nicht. Der Körper sieht noch unversehrt aus, bis auf das Gesicht, denn der Schuß in der Dunkelheit war nicht so präzise wie die Kugel, die den Unterleutnant aus Gloucester in die Stirn getroffen hatte. Ein Auge ist zerstört.
Die Sonne geht auf, Wachablösung. Victor kann die Gesichter der neuen Gefangenen erkennen. Die vier Männer sehen noch verwilderter aus als er. Sie haben lange Bärte, und keiner von ihnen trägt noch Stiefel. Ihre Füße sind voller Wunden, und von ihrer Uniform ist nicht mehr viel übrig.
Eine Krähe hüpft in die Umzäunung, als sei sie hier zu Hause. Als sich einer der Männer etwas anders hinsetzt, flattert der Vogel kurz auf, läßt sich dann aber dreist neben dem Leichnam des jungen Soldaten nieder. Er pickt ein paar Ameisen aus der langen Kolonne und hüpft zum Gesicht, um den Schnabel ohne zu zögern in das geronnene Blut der Augenhöhle zu hacken. Schweigend beobachten die Soldaten, wie sich der pechschwarze Vogel an dem Jungen gütlich tut.
Mit der aufgehenden Sonne setzt auch die Verwesung ein. Die Krähen haben sich auf den grün anlaufenden Körper gestürzt. Der süßliche Leichengeruch mischt sich mit dem schweren Fäulnisdunst, der aus dem Urwald aufsteigt. Victor kann an nichts anderes als an Essen denken, an die reich gefüllten Tafeln im Club, das Grillen eines Wildschweins über einem Holzfeuer, Hühnerconsommé, Plumpudding mit Korinthen und Rosinen, frische Forelle, Lammkeule mit Minzgelee und einem gehörigen Schuß Tabasco, Schweineschmortopf mit Äpfeln, Lachs mit Gurkensauce, Lancaster Hotpot, Würstchen mit Zwiebelsauce, Knoblauchsuppe, Country Pie, Birnen mit Schlagsahne, pochierte Eier, Christmas Pudding mit Brandy Butter, Beef Wellington, Truthahnkasserolle mit Bier …
Eine Krähe rupft das letzte Stückchen des Augapfels aus der Höhle. Sie muß fest ziehen, denn der Muskel gibt sich nicht so leicht geschlagen. Je länger Victor auf den Leichnam blickt, desto weniger kann er davon sehen, Millionen Insekten krabbeln über den jungen Soldaten, von dem er nur den Rang und den Nachnamen weiß.
Daß Victor nun hier hockt, ist seine eigene Schuld. Vor neunzehn Tagen hatte er seine Unterkommandanten zusammengerufen, in einem großen Zelt unweit der Grenze zu Indien, die Karte ausgerollt und seinen Plan erklärt. Alle Männer hatten genickt, nur ein sturer Schotte hatte geäußert, daß es Wahnsinn sei. Victor hatte den Schotten mit einer scharfen Bemerkung in die Schranken gewiesen, aber der Mann hatte recht behalten. Auf dem Rückweg zum Kommandoposten war es schiefgegangen, und deshalb steckt er nun hier und denkt an Shortbread, statt es genießen zu können.
Was die Männer in den Wahnsinn treibt, ist nicht der Geruch oder die Leiche selbst, sondern der Durst, der fehlende Schatten und die pausenlose Belagerung durch die Schmeißfliegen. Nur ein junger Hauptmann ist im Gegensatz zu den anderen sehr ruhig und tut das, was er als seine Aufgabe sieht: die Verletzungen seiner Mitgefangenen versorgen. Am ersten Tag, als die Leiche des Soldaten dalag, hatte es niemand gewagt, sich zu bewegen – bis die Sonne unterging und der Hauptmann beim letzten Tageslicht vorsichtig die Stiefel aufband. Alle sahen
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