Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
Vom Netzwerk:
Sie geht an der Reling entlang zum Heck, wo die englische Flagge weht. Heute hat sie Geburtstag. Beim Frühstück haben die Leute an ihrem Tisch Happy Birthday für sie gesungen. Der Koch hat eine Torte mit sechs Kerzen gebracht, die sie alle auf einmal auspusten mußte, was sie auch geschafft hat, Tante Ilse hat ihr einen Schal aus ihrem Koffer geschenkt, und nach dem Dinner durfte sie sich das Steuerhaus ansehen, aber das war ihr nicht geheuer, denn der Kapitän war auch da, und sie hatte Angst, daß er sie, wenn sie etwas falsch machte, unten im Schiffsbauch einschließen würde. Sie läuft weiter an den Liegestühlen entlang, das Bündel an die Brust gedrückt. Bei einer Treppe stehen zwei Matrosen und rauchen, aber die bemerken sie nicht. Auf dem Achterdeck ist niemand, sie geht zum Rand und schaut hinunter. Tief unter ihr tost das Meer. Das Wasser ist weiß, und im Mondlicht kann sie die Spur sehen, die sie gefahren sind.
    »Müßtest du nicht längst im Bett sein?«
    Sie erschrickt. Hinter ihr steht ein Mann, seine schwarzen Haare wehen im Wind.
    »Oder war dir der Film auch zu gruselig, so wie mir?«
    Charlotte schüttelt den Kopf.
    »Wie heißt du? Ich heiße Ganesh, nach dem Gott mit dem Elefantenkopf, zum Glück habe ich nicht so eine lange Nase gekriegt.« Er lacht.
    »Ich heiße Charlotte Elizabeth, wie meine Oma. Die ist tot.«
    »Wie schlimm! Fehlt sie dir?«
    »Nein. Ich habe sie nie kennengelernt.«
    Ganesh geht in die Hocke und schaut mit ihr aufs Meer hinaus. Eine Möwe stößt herab und fischt etwas aus dem Wasser.
    »Sie ist mit meinem Opa über einen Berg gegangen mit unserer großen Uhr, dabei hat sich ihr Fuß entzündet, es war nämlich so kalt, daß sie sich nicht ausruhen konnten und immer weiterlaufen mußten, der Fuß ist ganz schwarz geworden und mußte ab, sonst wäre sie gestorben, aber dann ist sie trotzdem gestorben, aber mein Vater hat nicht geweint.«
    »Du kommst aus einer abenteuerhungrigen Familie, das kann ich von mir nicht sagen. Meine Familie lebt schon seit Jahrhunderten in einer kleinen Stadt am Fuß des Himalaja. Ich bin der erste von uns allen, der auf Reisen geht.«
    »Warum?«
    »Ich habe ein Stipendium bekommen, um in England zu studieren. Ich darf Ingenieur werden.«
    »Ich muß auch in die Schule. In ein Internat, ich bin nämlich jetzt sechs.«
    »So groß bist du schon?«
    Charlotte nickt heftig. »Ich reise allein«, sagt sie entschieden. »Und ich habe auch nicht geweint.«
    »Das ist tapfer. Ich habe aber geweint.«
    »Hat dir dein Vater das erlaubt?«
    »Nein, aber ich hab’s heimlich gemacht.«
    »Allein?«
    Ganesh nickt.
    »Ich hab auch schon manchmal allein geweint, aber das weiß niemand«, sagt Charlotte leise.
    »Ich werd’s nicht weitersagen«, flüstert Ganesh und schließt mit einem imaginären Schlüssel seinen Mund zu.
    Charlotte lacht.
    »Warum bist du so spät noch auf?«
    Das Lachen verschwindet aus ihrem Gesicht. Sie drückt das Bündel wieder an sich und blickt aufs Meer hinaus.
    Ganesh wartet.
    »Sie muß weg.«
    »Wer?«
    Charlotte öffnet das Tuch, in das sie die Puppe mit dem gebrochenen Hals eingewickelt hat.
    »Willst du sie ins Meer werfen?«
    Charlotte nickt. »Tante Ilse hat gesagt, wenn ich auf dem Schiff sterbe, legen sie mich auf ein Brett und werfen mich ins Meer, weil ich sonst anfange zu stinken und die anderen Leute krank werden.«
    »Aber sie kann doch noch repariert werden?«
    »Nein.«
    »Soll ich es nicht mal versuchen?«
    »Nein.«
    »Wirklich nicht?«
    Charlotte schüttelt den Kopf, aber gibt Ganesh die Puppe, der sie sehr vorsichtig hält.
    »Was für eine schöne Puppe.«
    »Es ist eine doofe Puppe.«
    »Sie hat echte Haare.«
    »Sie ist doof.«
    Ganesh sieht sich die kaputte Puppe an. »Soll ich versuchen, sie zu reparieren?«
    Charlotte schweigt.
    »Wenn es mir nicht gelingt, übergeben wir sie morgen zusammen dem Meer, mit einem richtigen Brett. Aber wenn ich sie wieder hinkriege, gibst du ihr einen Namen. Einen sehr schönen Namen.«
    »Welcher Name ist schön?«
    »Khushi zum Beispiel, das bedeutet ›Glück‹.«

1901
Khaiber-Paß
     
     
     
    Er hat Angst. Große Angst. William Bridgwater, der junge, ehrgeizige Tiefbauingenieur, aufgewachsen in einer Lehrerfamilie in Ipswich, hat den Fehler seines Lebens begangen. Er hat sich in Elizabeth Charlotte Elphinstone verliebt, Tochter des steinreichen Direktors der New Indian Railway, und sie erwidert seine Gefühle. Sie sind nicht einfach verliebt, sie sind

Weitere Kostenlose Bücher