Warten auf den Monsun
unsterblich verliebt. Seit mehr alseinem halben Jahr nutzen sie jede Gelegenheit, um sich heimlich im Garten ihres Hauses zu treffen. Der Garten ist von einer Mauer umgeben, aber ganz hinten zwischen den Sträuchern befindet sich ein kleines Loch, das William vergrößert hat. Elizabeth darf das Haus nicht allein verlassen, weil sich ihr Vater vor den Leuten des Afridi-Stammes fürchtet, die sich hartnäckig gegen das Vorhaben der Briten wehren, eine Eisenbahnlinie über die Berge anzulegen. Gestern abend, als der erste Schnee der Saison die Zelte der Arbeiter bedeckte, hat ihm Elizabeth Elphinstone beim Loch in der Mauer ihren Bauch gezeigt und William gesagt, daß sie schwanger ist.
William hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Zelt, das er mit einem anderen Ingenieur teilt, steht am Rand ihres Lagers. Nach dem Frühstück schreibt er einen Brief an seine Eltern und teilt ihnen mit, daß er eine lange Reise unternehmen wird. Nachdem er den Brief in die rot angestrichene Kiste gesteckt hat, die als Briefkasten dient, sagt er den anderen, er müsse aus geschäftlichen Gründen ein paar Tage fort. Mit einem Koffer verläßt er das Lager. Draußen geht er durchs Gebüsch zu dem Pfad, der zum hinteren Bereich des Grundstücks der Elphinstones führt. Er will nicht mit einem Koffer gesehen werden.
Vor dem Loch in der Mauer steht ein Junge mit einer Uhr. William erschrickt. All die Monate konnte er ihrem besitzergreifenden Vater ausweichen, und heute, gerade heute, wird er entdeckt!
Der Junge erblickt William und hebt die Hand.
Als er näher kommt, sieht er, daß es Elizabeth ist. »Bist du fertig?«
Sie nickt.
»Du bist dir sicher, daß es dir nicht leid tun wird?«
Sie schüttelt den Kopf, unter der dicken Mütze, die sie sich übergezogen hat, kommt eine Locke hervor.
William schiebt die Locke wieder in die Mütze und streicht ihr mit dem Finger über die Wange. »Komm, wir gehen.«
Elizabeth deutet auf die Uhr.
William sieht sie fragend an.
»Es ist das einzig Wertvolle, das ich besitze.«
»Eine Uhr! Wir können doch keine Standuhr mitnehmen!«
»Du hast gesagt, ich soll meine Wertsachen mitnehmen. Die Uhr hat mir mein Großvater geschenkt.«
»Hast du nicht eine Kette oder einen Ring?«
Elizabeth schüttelt den Kopf. »Ich hab nur diese Uhr. Und meinen Bauch.«
William wirft einen verzweifelten Blick auf die Uhr, die größer ist als Elizabeth.
»Wenn die Uhr nicht mitkann, komme ich auch nicht mit«, sagt sie trotzig.
»Aber wie?«
Sie zeigt auf das Loch. William sieht, daß im Gebüsch ein Fahrrad steht.
»Es ist eingeklemmt«, sagt Elizabeth.
»Aber ein Fahrrad ist zu klein für die Uhr.«
»Es ist ein Tandem.«
William zieht daran. Krachend bricht ein Stück Stein aus der Mauer, und er fällt samt Tandem rückwärts in den Schnee.
Er zieht die Decke über sie. Es ist dunkel und kalt. Der eisige Wind weht immer mehr Schnee den Berg hinauf.
»Hast du Hunger?«
Elizabeth nickt. William zieht eine Tafel Schokolade aus der Manteltasche. Er bricht ein Stück ab und gibt es ihr. Sie reden nicht. Sie sind zu müde, und sie frieren. William küßt Elizabeth sanft auf den Mund. Sie erwidert den Kuß. Er schmeckt die Schokolade auf ihren kalten Lippen. Sie kuscheln sich aneinander.
»Wenn wir wenigstens ein Feuer hätten«, flüstert Elizabeth.
William zeigt auf die Uhr, die mit zwei Stricken an der Seite des Fahrrades festgebunden ist.
»Nein, nicht die Uhr, die ist für Victor.«
»Victor?«
»So soll er heißen«, sagt sie und legt die Hände auf ihren Bauch.
Es ist noch dunkel. William hält beim Schieben den Lenker, und Elizabeth schiebt von hinten, links hängt die Uhr und rechts der Koffer. William will an Fort Maude vorbei sein, bevor es hell wird. Es ist dort ruhig, seit die Männer vom Afridi-Stamm das Fort in Brand gesteckt haben und die britische Armee abgezogen ist, aber ganz sicher ist er sich nicht. Vor sich sehen sie den höchsten Punkt des Bergpasses. Elizabeth singt leise Kinderlieder, und William dankt dem lieben Gott, daß er ihm diese Frau geschenkt hat. Wenn sie am Abend in Jamrud sind, wird er sich darum kümmern, daß sie ein warmes Bad und ein warmes Bett bekommt. Er wird dafür sorgen, daß es der werdenden Mutter an nichts fehlt. Er kennt ein Hotel, in dem sie gut essen können.
Es beginnt wieder zu schneien. Immer stärker und heftiger bläst der Wind die wirbelnden Flocken zwischen den Bergwänden hindurch. Schweigend laufen sie weiter, das Rad mit
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