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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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ihm ihren Arm.
    »Siehst du, daß ich recht hatte? Jeder, der nach England reist, trägt einen Schal.«
    »Du nicht.«
    »Ich bin im Schnee geboren, mir macht Kälte nichts aus.«
    »Ist es in England immer kalt?«
    »Nein, nur im Frühling, im Herbst und im Winter. Im Sommer wird es langsam wärmer, und manchmal laufen alle Leute ohne Mantel rum.«
    »Ich hab keinen Mantel.«
    »Hat dir deine Mutter keinen Mantel in den Koffer gepackt?«
    »Ich glaube, sie hat es vergessen.«
    »Und einen Pullover?«
    Charlotte schüttelt den Kopf.
    »Willst du einen Pullover von mir?«
     
    Charlotte hopst in einem dicken grünen Wollpullover herum, an dem Ganesh’ Großmutter lange gestrickt hat. Für sie ist er wie ein kurzes Kleid. Die Ärmel sind hochgekrempelt, und um die Taille hat Ganesh ihr ein Band geschlungen. Er ist stolz auf das Ergebnis. Charlotte erinnert ihn nun an seine kleine Schwester. Wann wird er sie wiedersehen? Wird er sie jemals wiedersehen? An Bord redet kaum jemand mit ihm. Die meisten Passagiere sind britische Ehepaare und Militärangehörige, die ihren Urlaub in England verbringen. Sie spielen Bridge und Minigolf oder trinken Whisky an der Bar, ein Zeitvertreib, den er nicht gewohnt ist.
    »Was sollen wir spielen?« Charlotte hat ihre Puppe auf einen Stuhl gesetzt und schaut ihn an.
    »Kennst du ›huui-huui-ich-fang-dich‹?«
    »Ist das gruselig?«
    »Wenn man es in Nächten ohne Mondlicht spielt, kann es sehr gruselig sein.«
    Ganesh breitet die Arme aus, beugt sich vor und hält den Kopf etwas hoch. »Such dir einen Wind aus.«
    »Einen Wind?«
    »Ja, starker Wind oder scharfer Wind, dicker Wind, sanfter Wind, warmer Wind, kalter Wind, Hauchwind, Wirbelwind, Morgenwind oder Winterwind.«
    Charlotte sieht ihn mit offenem Mund an. »Kennst du so viele Winde?«
    »Wir haben bei uns in den Bergen noch viel mehr Winde. Federwind, Sandwind, Schneewind, Sausewind, Flüsterwind, Brautwind, Sommerwind, Tauchwind, Klappwind, Fallwind, Stoßwind, Bruchwind, Nord-, West-, Ost- und Südwind, und natürlich den Traumwind. Es gibt noch viel mehr, aber das sind die wichtigsten. Du suchst dir einen Wind aus, und den wehst du, der andere muß raten, welcher Wind es ist, und wenn du richtig geraten hast, mußt du dir den Wind schnappen und einen neuen Wind wehen lassen, kapierst du?«
    Charlotte nickt. »Ich fange an.« Sie streckt die Arme weit aus, beugt den Oberkörper vor, kneift die Augen zu Schlitzen zusammen und saust über das Deck.
    »Starker Wind?« ruft Ganesh.
    Sie weht weiter.
    »Scharfer Wind? Sausewind? Wirbelwind?« Ganesh nennt alle Winde, die er kennt, aber mit keinem davon ist das kleine Mädchen zufrieden.
    »Nein, nein!« kreischt sie.
    »Nachtwind … trockener Wind … Pelzwind … Teufelswind   … Sonnenwind …!« Ganesh ruft immer mehr Winde.
    »Es ist ganz leicht.«
    »Gipfelwind?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Fingerwind … Schwefelwind!«
    Sie läuft im Kreis um ihn herum, sie lacht, die Arme ausgebreitet, den Kopf gesenkt. »Falsch, falsch, alles falsch. Und alles richtig.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Es ist der Wind von Indien«, sie quietscht vor Lachen, »der Wind, der kurz vor dem Monsun um unser Haus weht!« Sie saust weiter. »Jetzt weißt du’s, jetzt mußt du mich fangen.«
    Ganesh rennt hinter ihr her, die Arme ausgebreitet, den Kopf gesenkt, seine Schritte sind größer und schneller als ihre. Er hebt sie hoch und läßt sie mit Schwung durch die Luft fliegen. Sie drehen sich, drehen sich im Wind herum. Drehen sich immer schneller. Lachen immer lauter.
    Ein eisiger Schrei. Zwei Hände ziehen sie aus der Luft. Charlotte knallt auf das Deck, sie schreit vor Schmerz. Tante Ilse faßt sie an der Hand und zieht sie mit einem Ruck hoch.
    »Help! HELP !«
    Von allen Seiten kommen Leute angerannt und wollen wissen, was los ist.
    »Der da, der …«, Tante Ilse zeigt auf Ganesh. »Er hat sich mein Kind geschnappt!«
    Zwei Männer packen ihn an den Schultern, zerren ihn nach hinten und schubsen ihn gegen die Wand. Ein großer Mann mit einem Schnurrbart boxt ihn in den Magen. Ganesh sackt zusammen. Ein Mann mit braunen Stiefeln versetzt ihm einen Tritt.
    Tante Ilse zieht Charlotte den Pullover aus und wirft ihn über die Reling.
    Ein Hagel von Tritten prasselt auf Ganesh nieder, gnadenlos, ohne Zögern. »Braune Ratte, das wirst du büßen!« Er spürt die Tritte nicht, er spürt nichts mehr, er hört nur Charlottes Weinen.

1936
Grand Palace
     
     
     
    Die sieben Töchter des

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