Warten auf den Monsun
will, daß darauf die einzige Adresse steht, die er besitzt, daß er sonst nirgendwo hinkann. Aber die Hände der Mitreisenden sind zu schnell, und Madan wagt es nicht, seine Stimme zu erheben.
Ein kleiner, alter Mann in einer Ecke des Abteils, der die ganze Nacht mit einer Decke über dem Kopf geschnarcht hatte, erwischt einen der Fetzen. Er liest, was darauf steht, schaut Madan erstaunt an, zieht seine Schuhe aus, stellt sich auf die Holzbank und schlägt seinen Regenschirm mehrmals mit voller Wucht gegen die metallene Gepäckablage. Das Geräusch ist so durchdringend, daß alle aufsehen. Der ehemalige Lehrer hat es nicht verlernt, sich Gehör zu verschaffen, und mit knarzender Stimme verlangt er alle Papierschnipsel zurück.
Teils widerwillig, teils murrend liefern die Reisenden die Papierfetzen ab, die der Mann in einer Plastikdose sammelt. Als Madan zu ihm geht, um sich die zerrissenen Reste dessen, was er für seine Zukunft hielt, zurückzuholen, hebt der alte Mann die Hand, um deutlich zu machen, daß er sehr beschäftigt ist.
Madan hat beim Aufstehen von der Holzbank seinen Sitzplatz eingebüßt. Nun steht er etwas verloren zwischen den Beinen der sitzenden Fahrgäste und schaut zu, wie der alte Mann den Zettel akribisch zusammenfügt, Fitzelchen für Fitzelchen. Damit der Fahrtwind, der durch die offenen Fenster hereinweht, seine Arbeit nicht zerstört, leckt er, wenn er die richtige Stelle gefunden hat, an dem Stückchen Papier und klebt es auf den Boden der Dose. Alle sehen dem puzzelnden Mann gespannt zu.
Sich in der unerwarteten Autorität und Aufmerksamkeit sonnend, strafft er den Rücken, putzt seine Brille, sieht sein Publikum an und räuspert sich. »Hier auf dieser Karte steht«, sagt er mit feierlicher Stimme, »ein Name und eine Adresse.«
»Von wem?« ruft jemand
Wieder räuspert sich der alte Mann, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und dann sagt er langsam und deutlich, als würde er ein Diktat vorlesen: »Dr. Krishna Kumar, Angappanstraße 45, Mannady, Madras.«
Ein ehrfürchtiger Seufzer geht durch das Publikum.
Madans Herz setzt einen Schlag aus. Er fährt zu einem Doktor in Madras! Deshalb hat Chandan Chandran ihn dorthin geschickt. Endlich wird er Hilfe für sein großes Problem bekommen. Bald wird er sprechen können! Er findet es nicht mehr schlimm, daß sich jemand auf seinen Platz gesetzt hat, daß er Hunger und Durst hat, daß er sich am Morgen nicht waschen konnte, daß er nicht weiß, wie lange die Fahrt noch dauern wird, daß er Angst hat, sich Läuse zu holen bei seinen Mitreisenden. Bald wird er wie alle Menschen sprechen können.
Der Trommler spielt einen Wirbel. Der Sänger setzt wieder ein, und Madans Hüften beginnen sich wie die der Mädchen im Club zu bewegen. Es wird geklatscht und gejohlt. Der Trommler beschleunigt den Rhythmus, der Sänger paßt die Melodie an. Madan tanzt, mitten in dem überfüllten Zug von Bombay nach Madras.
1995
Rampur
Beim Licht der Kerze, die sie in der Hand hielt, schloß Charlotte die Tür des Kinderzimmers wieder ab und hängte den Schlüssel an seinen festen Platz am Nagel. Ihren Vater zu füttern, weckte bei ihr keine mütterlichen Gefühle, eher etwas wie Ernüchterung. Obwohl er Momente hatte, in denen er vollkommen klar war, merkte sie doch, daß seine geistigen Fähigkeiten nachließen. Darum befolgte sie keinen seiner Befehle mehr. Daß er sich heute plötzlich wieder an den Krieg erinnert hatte, beunruhigte sie. Oft hatte er dann in der Nacht schreckliche Alpträume und schrie so laut, daß die Leute, die am Fuß des Hügels lebten, es hören konnten.
Sie sah oben an der Treppe die Kiste stehen, in der Hema die Kerzenstummel und -stücke verwahrte, die er aus dem riesigen Kronleuchter gepult hatte. Hema war der einzige, der noch immer alle Befehle ihres Vaters ausführte.
Unten surrte die Nähmaschine. Sollte sie zu ihm gehen? Sollte sie ihm sagen, daß sie im Zimmer ihres Vaters die Stoffe gefunden hatte? Die Treppenstufe knarrte unter ihrem Fuß. Ob er hörte, daß sie hinunterging? Hoffte er, daß sie ins Klavierzimmer kommen würde? Machte er eigentlich jemals etwas anderes als arbeiten? Er war immer so ernst.
Sie legte die Hand auf die Türklinke. Die Kerze beleuchtete das alte Holz, sie sah die Maserung, die wie ein strudelnder Fluß über die Tür wirbelte. Sie spürte den Druck des Wassers im Rücken.
Sie öffnete die Tür.
Da bist du ja.
Ja.
Ich habe auf dich gewartet.
Gewartet? Auf
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