Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
bedingungslose Fürsorge, wie sie ein Kleinkind für sich beanspruchen darf, abgepuffert. Nun geht der Neinsager immer das Risiko ein, Stress mit seinen Eltern zu bekommen, zu weit zu gehen. Mitunter wird dieses Spiel bis hin zur Selbstverletzung getrieben. Doch nur so lernen die Jugendlichen: „Das bin ich. Und das bin ich nicht.“ Sie lernen Zu- und Einordnungen und bauen ihr eigenes Wertesystem auf.
Meine Teilnehmer frage ich immer wieder: „Wie warst du als Junge? Wie warst du als Mädchen? Hast du rebelliert, dich aufgelehnt?“ Die Antwort ist meistens ein ratloses Kopfschütteln. Die Menschen, die meine Kurse besuchen, haben oft die Nein-Phase in der Pubertät ausgelassen. Sie haben in dieser wichtigen Zeit ihr Nein nicht geübt. Das kann verschiedene Gründe haben; häufig ist es das Gespür für eine Instabilität in der Familie. Betroffene Jugendliche verhalten sich in der Pubertät so, dass das fragile Familiensystem nicht auseinanderbricht.
Mir fällt da ein junger Mann ein, der mit 22 Jahren schon seinen Doktortitel in der Tasche hatte. Er hatte so viel erreicht in seinem Leben, er wusste schon so viel, aber dennoch schaffte er es nicht, mit diesem kleinen Wort Nein auch mal in sich selbst für Ruhe zu sorgen und den Druck zu reduzieren. Ich fragte ihn: „Wann hast du dein Nein verloren?“ Er hatte darauf keine Antwort und zuckte hilflos mit den Schultern.
Eine ungelebte Pubertät rächt sich – nicht nur in Bezug auf das Neinsagen, auch auf die Identitätsfindung in der eigenen Geschlechterrolle. Wer die Rebellion in der Jugend auslässt, hat das Nein nicht geübt.
Das Nein stärkt das Ich. Notorisches Ja-Sagen schwächt das Ich.
Eigene Räume
Die junge Frau wirkte erschöpft und ausgebrannt. Sabine Fissler ließ die Schultern hängen und hatte unter ihrer Sommerbräune dunkle Ringe unter den Augen. Dabei kam sie gerade vom Jakobsweg zurück. Auf die Frage, wie denn ihre Zeit in Spanien gewesen sei, leuchteten ihre Augen zwar etwas auf, doch ihr Beitrag war eher matt und lustlos. Ich hatte mit etwas mehr Energie gerechnet, als ich sie in der Seminarrunde begrüßte.
In der Vorstellungsrunde gab sie uns einen Einblick in ihre Biografie. Sabine Fissler wuchs mit drei Geschwistern auf; sie war die Jüngste. Ihre zweitälteste Schwester ertrank als Sechsjährige; fortan prägte latente Trauer das Leben in der Familie. Doch das war nicht der einzige Schicksalsschlag. Schon als sie zur Welt kam, wusste die Familie, dass die Mutter erblinden würde; ihr Augenlicht hatte schon stark nachgelassen. Das kleine Mädchen wuchs in die Rolle der helfenden Hand hinein. Früh war sie dazu verpflichtet, sich um die Mutter zu kümmern, die täglichen Einkäufe zu erledigen und den Haushalt zu führen. An den Wochenenden kochte Sabine für die ganze Familie bis zu zehn verschiedene Mahlzeiten für die ganze Woche vor. Der Vater und die Geschwister konnten sich voll und ganz auf sie verlassen. Nie hat sie aufbegehrt oder ihrer blinden Mutter gesagt: „Wir müssen das anders lösen. Ich habe schließlich auch noch ein Leben.“
Als Kind und Jugendliche wuchs sie automatisch in ihre Aufgaben hinein. Die bedingungslose Pflichterfüllung ging ihr in Fleisch und Blut über. Heute war sie über 30 – und nichts hatte sich geändert. Ihr Vater war mittlerweile im Ruhestand und könnte im Haushalt und mit der Pflege der Mutter helfen, aber in der Familie lief alles so weiter wie bisher.
Sabine hatte nie eine Chance, ein Nein zu formulieren. Das zu Hause gelernte Muster übertrug sich auch auf die anderen Lebensbereiche der jungen Frau. Allen Mitmenschen war klar: „Auf Sabine kann man in allen Lebenslagen zurückgreifen, auf sie ist Verlass – und sie macht immer alles möglich.“ Doch ihr eigenes Ich, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse blieben ungehört. Sie selbst kam nie zum Zug.
Wie ist das eigentlich? Sind Menschen, die schon in der Kindheit nicht gelernt haben, Nein zu sagen, bis an ihr Lebensende dazu verdammt, Erfüllungsgehilfen der Wünsche anderer zu sein? Oder können sie das Verpasste zu späterer Zeit nachholen? Die Antwort ist klar und einfach: Auch wenn das Nein nicht geübt wurde – verloren ist es nicht. Es ist nicht ganz leicht, aber man kann jederzeit den Faden wieder aufnehmen und damit anfangen, sich abzugrenzen und das Ich durch ein Nein zu stärken.
Viele Menschen müssen schlicht ihre Pubertät nachholen: Sie müssen rebellieren und Nein sagen lernen. Das geht am besten, indem sie
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