Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
schauen. Geschäftstelefonate werden noch bis zur allerletzten Sekunde am Flughafen geführt. Am Gate sowieso, doch auch im ruckelnden Shuttle-Bus zum Flugzeug, wo man auch ohne Handy am Ohr Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten, wird jenseits jeder Privatsphäre auf Teufel komm raus kommuniziert. Erst wenn die Ansage im Flugzeug die weitere Benutzung der elektronischen Medien während des Startens strikt verbietet, wird abgeschaltet. Doch bereits Zehntelsekunden nach Erlöschen der Anschnallzeichen wird der Laptop aufgeklappt und weitergearbeitet.
Vielleicht ist es wie bei einer mehrspännigen Kutsche: Wenn eines der Pferde leicht die Peitsche zu spüren bekommt, läuft es ein wenig schneller. Die anderen Pferde werden mitgezogen und müssen das höhere Tempo mitgehen, denn sie stecken ja im selben Geschirr. Das Grundtempo der Gruppe hat sich erhöht, die etwas schnellere Gangart ist von nun an normal.
Wer nachts E-Mails bearbeitet, beweist sich und den anderen vordergründig seine Leistungsfähigkeit. Doch gleichzeitig zieht er für alle das Tempo an. „Was, der Schmidt hat die Mail gestern Abend um 23 Uhr geschrieben? Dann sollte ich das auch mal machen, sonst denkt noch jemand, ich würde mich nicht voll reinhängen.“ Also wird sein Kollege sein Mailkonto tunlichst ebenfalls am Abend oder am frühen Morgen checken und möglichst ein paar Mails beantworten – damit die anderen das auch mitbekommen.
Es sind also nicht die E-Mails selbst, die das Tempo beschleunigen, sondern diejenigen, die die Mails praktisch rund um die Uhr umgehend beantworten. Wer schnell antwortet, bewirkt, dass sein Gegenüber ebenfalls umgehend reagiert. Auf diese Weise steht die Form bald über dem Inhalt: Schnell sein heißt gut sein.
Ich persönlich möchte bei dieser Hatz nicht mitmachen. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass ich nicht schlafen konnte und tatsächlich nachts oder frühmorgens Mails geschrieben habe. Doch ich habe dann mein E-Mail-Programm so eingestellt, dass die Mails erst zu normalen Bürozeiten versendet wurden.
Während eine erhöhte Tempovorgabe sehr schnell von einer Gruppe aufgenommen wird, klappt das mit der Verlangsamung nicht so gut. Die vor die Kutsche gespannten Pferde werden, wenn sie durch ein Schnalzen mit der Zunge oder mit der Peitsche ein wenig angetrieben wurden, nicht von allein wieder langsamer, sonst müsste der Kutscher ja ständig und ohne Unterlass die Peitsche spielen lassen, um das erhöhte Tempo zu halten.
Beim Menschen funktioniert das genauso. Wenn er in eine schnellere Gangart gezwungen wird, kommt die Kraft von außen, er muss mitlaufen – ob er will oder nicht. Und dann hält er das Tempo. Mit dem Abbremsen ist es dagegen nicht so einfach. Wenn ich abbremsen will, muss ich aktiv dem freien Raum vor mir widerstehen, der durch das höhere Tempo meines Vordermanns entsteht. Eigentlich ganz einfach, so ein Schritt zur Seite. Physisch gesehen hindert uns nichts daran, für ein paar Minuten zwischendurch oder übers Wochenende den Stift hinzulegen, den Laptop zuzuklappen oder die Bürotür zu schließen. Auf psychischer Ebene stellt das schon eher eine Herausforderung dar. Denn um diese Entscheidung überhaupt zu treffen, müssen die Prioritäten geklärt sein. Die Erfahrung lehrt: Wer aus seinem Leben auch nur für eine geringe Zeitspanne Tempo herausnehmen will, braucht dafür den bewussten und konkreten Willen. Am besten organisiert er solche Freiräume schon im Vorfeld.
Ich hatte kürzlich in Süddeutschland zu tun und reiste mit der Bahn aus Hamburg an. Ich war morgens sehr früh aufgestanden, hatte auf der Fahrt noch etliche Mails beantwortet, die Unterlagen für das bevorstehende Seminar sortiert und mich auf jeden Teilnehmer einzeln vorbereitet. Mit meiner Ankunft am Zielort wurde die Anspannung noch stärker: Mehrere Stunden höchste Konzentration und stete Präsenz fordern ihren Preis. Als ich am Ende des Seminars darauf wartete, dass ich die von den Teilnehmern ausgefüllten Fragebögen wieder einsammeln konnte, kreisten meine Gedanken bereits darum, ob mich das Taxi auch pünktlich zum Bahnhof bringen und ich meinen Zug noch erwischen würde. Ich checkte in Gedanken, ob ich alles eingepackt hatte, fragte mich, wie wohl das Feedback der Teilnehmer ausfallen würde, gab mir selbst das Versprechen, nicht mehr an diesem Wochentag Seminare zu geben, da ich nur sehr ungern meinen Yoga-Kurs verpasste, und schielte immer wieder auf die Uhr. Der ganze Tag war im Dauerlauf an
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