Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
ganz bewusst unangepasste Dinge tun – auch wenn es in der Öffentlichkeit noch so anstößig wirken mag. Ich zeige meinen Teilnehmern, dass bestimmte Dinge auch mit Mitte vierzig möglich sind: etwas Außergewöhnliches anziehen oder sich die Finger in einer schrillen Farbe lackieren. Ein 49-jähriger Unternehmensberater schickte mir kürzlich ein Foto, auf dem er ganz stolz und strahlend mit seinem nagelneuen roten Motorroller posierte, den er sich schon immer gewünscht hatte – ein Lebensgefühl, das an das eines 16-Jährigen anknüpft.
So ein Nein ist für die Umgebung manchmal unangenehm. Wir spüren das und lassen uns dadurch abschrecken. Das Nein wird uns peinlich. Stellen Sie sich eine Dame vor, die in der Konditorei steht. In aller Ruhe sucht sie sich ein Paar Kuchenstücke aus. Vier Stücke liegen schon auf dem Pappteller in der Hand der Verkäuferin. Die Dame zeigt auf die Auslage, nimmt noch ein Stück Mohnstreusel und einen Streifen Bienenstich dazu. Und dann sagt sie: „Ach, ist das da hinten ein Nusskranz? Bitte geben Sie mir doch statt der einzelnen Kuchenstücke einen ganzen Nusskranz!“ In der Regel sind meine Teilnehmer entsetzt, wenn sie sich eine solche Situation vorstellen. Niemals würden sie solche Umstände machen wollen, niemals so viel Aufwand betreiben, damit sie das bekommen, was sie wirklich wollen. Eher gehen sie mit den einzelnen Kuchenstücken nach Hause, als den Nusskranz zu fordern, den sie viel lieber gekauft hätten. Dabei haben wir alle das Recht, für uns zu sorgen – und das gilt nicht nur beim Kuchenkauf.
Erst wenn wir den Mut haben, anders zu sein, kann Abgrenzung gelingen. Erst ein Nein zieht Grenzen. Diese Grenzen sind ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identitätsfindung, denn das Nein schafft Räume und Mauern, die unseren Lebensraum unterteilen. Mauern trennen nämlich nicht nur, sie schützen auch. Sie umschließen Räume, in denen wir geborgen sind und in denen sich unser Ich entspannen kann.
Doch was tun wir? Wir reißen systematisch die Mauern ein! Im Erwachsenenalter zelebrieren wir die Grenzenlosigkeit, eine Art symbiotischer Verbundenheit zu allem. Die Social-Media-Plattform Facebook , wo oberflächlich alle mit allen verbunden sind, ist nur ein Beispiel dafür. Es bildet sich ein einziger großer Raum – alles ist eins, Arbeit, Familie, Urlaub, Ikea. Wir leben in einer ständigen Verbundenheit mit der Welt. Alle Daten sind offen zugänglich. Abgrenzungen sind nicht en vogue . Das Nein ist aus der Mode geraten. Und die letzten abgetrennten Schutzräume für das Ich laufen Gefahr, aufgebrochen zu werden.
Das Nein befindet sich auf dem Rückzug, denn allerorten wird ein Ja erwartet. Die sich auflösenden Grenzen haben wiederum zur Folge, dass jederzeit und überall dieselben Werte und Muster Gültigkeit erlangen. Gleiche Muster und Werte für alle bedeutet aber auch, dass es kein eigenständiges Ich mehr gibt. Ohne Abgrenzung kein Ich-Bewusstsein, kein Selbst-Verständnis mit dem klaren Gefühl: „Hier ende ich, hier beginnt der andere.“
Wenn ich zulasse, dass das Handy überall und zu jeder Zeit klingelt, ist mein ganzes Leben wie ein einziger großer Raum ohne Mauern, und ich kann den Raum somit auch nicht mehr verlassen. Es gibt keinen Ort, der nicht Büro ist. Und keinen Ort, der privat ist. Zeitliche und räumliche Mauern fallen: Ob im Urlaub oder im Feierabend – ich bleibe immer und überall mit allem in Verbindung.
In meinen Augen ist es symptomatisch, dass der Zusammenbruch von Miriam Meckel sich im Hotelzimmer im Beisein der Lebensgefährtin ereignete, einer eigentlich sehr privaten Situation. Das Hotelzimmer ist ein Heimersatz; hierher zieht man sich zum Schlafen und Erholen zurück. Doch mit dem Öffnen des E-Mail-Accounts mischt sich privater Raum mit beruflichem. Diese Vermischung der Räume war in diesem Moment der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Der gesellschaftliche Konsens lautet: „Du darfst dich nicht abgrenzen.“ Gerade die aktuelle Generation hat große Probleme damit, sich von anderen abzugrenzen und damit zu sich selbst zu stehen. Die Antwort auf die Frage, warum das Ich so schwach ist, lautet also: weil es seine Grenzen und damit seinen Raum verloren hat.
Es bleibt die Frage, warum Grenzen ziehen heute nicht mehr opportun ist.
Kapitel 4
Was Anerkennung und Zugehörigkeit mit Burnout zu tun haben
Ein werdender Vater, nicht mehr ganz jung und beruflich als Grafiker bei einem renommierten Verlag sehr
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