Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
Haus und Kind im Kopf. Folglich errichteten wir sozusagen ein eigenes türkisches Mini-Dorf in unserer Küche. Mit unseren Kindern und einigen Tageskindern konnten wir eine Gemeinschaft konstruieren, die es jeder von uns ermöglichte, auch einmal wegzugehen, Dinge zu erledigen, sich auch mal um sich selbst zu kümmern und vieles mehr. Das Bestreben, diese Oase für uns einzurichten, ging zwar stark von Betül aus, doch ich stellte zunehmend fest, wie sehr mich dieser Ansatz bereicherte.
Obwohl ich doch Pädagogin war und aus beruflichen Gründen viel Erfahrung mit Kindern und das nötige Handwerkszeug dazu hatte – ich kam trotzdem nur ganz schwer mit meiner veränderten Lebenssituation zurecht. Aber erst durch Betüls Erzählungen konnte ich verstehen, warum es mir schlecht ging. Die junge Türkin, die mit Mitte 20 ihre erste Tochter im kalten Deutschland zur Welt gebracht hatte, führte mir meinen inneren Konflikt vor Augen: In unserer Gesellschaft müssen sich Frauen heute selbst um Zugehörigkeiten und Sinnhaftigkeit kümmern, sie müssen sich selbst neu verorten. Es gibt für sie keine fertige Gemeinschaft, der sie automatisch angehören, allein durch ihr Sein. In unserer Gesellschaft müssen Frauen etwas tun, um sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Sie müssen sich selbst neu erfinden.
Da bekommen Krabbelgruppen und Förderkurse einen Sinn, der über die Förderung der Kindertalente weit hinausgeht: Hier werden neue Gemeinschaften gebildet. Neue Werteentwicklungen finden statt. Die Frauen denken darüber nach, was ihre Kinder lernen sollen, was sie ihnen mitgeben wollen. Wie wollen sie den Nachwuchs ernähren? Wie gehen sie mit Krankheiten um? Um die Frage, ob ein Kind geimpft werden sollte oder nicht, entbrennen wahre Glaubenskriege. All das hat nur vordergründig etwas mit der Sorge um die Kinder zu tun. In Wahrheit geht es darum, dass die Frauen sich irgendwo positionieren müssen.
Warum also entfaltete unser kleines „Dorf“ in der Küche so viel Kraft für Betül und mich? Uns war es wie allen jungen Müttern hierzulande ergangen: Wir waren plötzlich zu Hause und allein. Isoliert. Wir hatten den Kollegenkreis verloren – also unsere Zugehörigkeit.
Zur Gruppe der anderen Eltern gehörten wir aber auch noch nicht richtig. Und zur Gruppe der Hausfrauen mit ihren Ritualen und Strukturen ebenso wenig.
Junge Mütter müssen sich neue Bezugssysteme aufbauen und Gemeinschaften aktiv erarbeiten. Da kann die in Kapitel 4 erwähnte Tupperparty als Ritterschlag und Aufnahmeritus in die Zunft der Hausfrauen und Mütter hilfreich sein. Auch der Umzug in eine familienfreundliche Siedlung, in der sich alle in ähnlichen Situationen befinden, erleichtert die Suche nach einer Gruppenzugehörigkeit. Doch unabhängig von den äußeren Faktoren: Diese Suche ist sehr mühsam, anstrengend und mitunter frustrierend. Das, was die Menschen brauchen, nämlich Anerkennung und Sinnstiftung, das geht den Frauen mit dem Eintritt ins Mutterdasein überwiegend verloren.
Die zahllosen Krabbelgruppen, Babyschwimmen, Kindergärten, Tupperpartys, wo sich die Mütter treffen können, sind offenbar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie können das Defizit nicht ausgleichen. Viele Mütter versuchen deshalb, so schnell wie möglich wieder in ihr Arbeitsfeld zurückzukehren. 60 Prozent der Frauen bemühen sich darum, Job und Familie so schnell wie möglich unter einen Hut zu bringen. Nur 20 Prozent versuchen sich ausschließlich auf die Familie zu konzentrieren.
Doch der Versuch, durch die Rückkehr zur Arbeit wieder Zugehörigkeit und Anerkennung zu erhalten, endet oft in einem Desaster: Die Frauen sitzen nun zwischen allen Stühlen. Sie gehören zum einen nicht mehr ganz der Gruppe der Mütter an, denn sie sagen viel zu oft „normale“ Mütterverabredungen ab, weil sie ihre Arbeit nicht schaffen. Zum anderen sind sie auch im Job nur halb angekommen, denn nach Feierabend müssen sie ganz pünktlich los, um das Kind abzuholen. Das schlechte Gewissen, ihr Kind in die Betreuung gegeben zu haben, bekommen sie ohnehin gratis dazu, aber außerdem entfällt auch noch der After-Work-Plausch mit den Kollegen, das gemeinsame Feierabendgetränk sowieso, und zum Geburtstag der Kollegen werden sie schon gar nicht mehr eingeladen.
Da sie nicht Vollzeit arbeiten, haben sie es sowieso schwerer, ihren Platz im Kollegenkreis zu finden, und die Weihnachtsfeier schwänzen sie dann auch noch, weil sie lieber mit der Familie Plätzchen backen
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