Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
(wie einer Schilddrüsenunterfunktion) oder psychische Erkrankungen (wie Depression oder Angststörungen) noch auf definierbare andere Ursachen zurückzuführen.“
Nach damaligem Wissensstand wurden derlei Erkrankungen mit viel Ruhe behandelt. Folglich verschrieben Ärzte den Patienten eine Kur in einem Sanatorium.
Das vermehrte Auftreten von Neurasthenie-Fällen bei eher empfindsamen und feinsinnigeren Menschen wurde neurologischen Veränderungen zugeschrieben. Damals führte man das Leiden auf den industriellen Wandel und die Tatsache zurück, dass gerade die feinsinnigen Menschen mit der immer höheren Geschwindigkeit des Lebens nicht mehr zurechtkamen.
Erstaunlich: Auch unter Berücksichtigung des historischen Umfelds sind die vielen Parallelen zwischen der Neurasthenie vor hundert Jahren und dem heutigen Burnout mehr als auffällig. Was genau passierte damals? Die Industrialisierung brachte neue Geschwindigkeitsvorgaben in die Arbeitswelt, es strömten mehr Informationen auf die Menschen ein und zunehmend schneller, die Schichtarbeit löste die „natürlichen“ Arbeitszeiten ab. Die Belastung für den Einzelnen nahm zu: Der Mensch musste sich an ein neues Zeitalter gewöhnen.
Das klingt vertraut.
So wie heute die Digitalisierung der Lebenswelt, so war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Industrialisierung, die die Geschwindigkeit des Alltags rapide erhöhte. Der Maschinentakt gab den Rhythmus vor, die Arbeit an den Fließbändern erhöhte den Druck auf die Schaffenden. Eisenbahnen und Autos ersetzten nach und nach die Kutschen, Telegraf und Telefon ließen Informationen schneller fließen. Ich erinnere mich an einen lustigen Text aus einem Roman, in dem ein Autor aus damaliger Zeit seine Erlebnisse mit der neuen Eisenbahn erzählte, aus der er die Welt mit 25 Stundenkilometern außen „vorbeirasen“ sah. Das mutet heute komisch an, zeigt aber deutlich, dass das neue Tempo für die Menschen eine große Belastung war. Die Maschinengeschwindigkeit entsprach nicht ihrem gewohnten Rhythmus.
Heute wächst mit dem Übergang ins Informationszeitalter die Geschwindigkeit beim Austausch von Informationen stark an. Internet und E-Mail überbrücken jede Distanz in einem Wimpernschlag, sämtliche Informationen und Inhalte stehen rund um die Uhr in Echtzeit weltweit zur Verfügung. Und damit wächst auch die Erwartung an den Einzelnen, dass auch er 24 Stunden zur Verfügung steht.
Doch heute wie damals gilt: Die Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit sowie die zunehmende Fremdbestimmung als Erklärungsmodell für Burnout beziehungsweise Neurasthenie heranzuziehen – bei denen es sich möglicherweise schlicht um ein und dieselbe Krankheit handelt –, wäre zu kurz gegriffen. Ein Blick auf die Patienten und die Therapiemethoden widerlegt diese Spur – und führt uns zum wahren Grund: Zur Jahrhundertwende waren es gar nicht die einfachen Arbeiter am Band, die über Neurasthenie-Symptome klagten, obwohl sie ja direkt von den Auswirkungen der Industrialisierung betroffen waren. Nein, es erkrankten mehrheitlich die Frauen aus der bürgerlichen Gesellschaft, die gar nicht unmittelbar von den Veränderungen in der Arbeitswelt betroffen waren. Doch wie kann das sein: Der Wandel in der Arbeitswelt macht besonders diejenigen krank, die gar nicht arbeiten? Das ist ähnlich kurzsichtig argumentiert wie die Behauptung, Burnout käme vom Job, wo doch Arbeitslose und Hausfrauen genauso davon betroffen sind wie Manager.
Der Arzt von Hedwig von Grünewald verschrieb seiner Patientin angesichts der diagnostizierten Nervenschwäche einen mehrwöchigen Aufenthalt in einem Sanatorium. Sind es heute die Wellness-Tempel, die die ausbrennenden Menschen mit offenen Armen aufzufangen versprechen, waren es damals die Sanatorien in den Bäderorten. Es galt nahezu als schick, mit einem „Nervenleiden“ in ein mondänes Sanatorium zu reisen. Orte wie Bad Driburg oder Bad Sulza schlafen heute vor sich hin, doch die riesigen Parkanlagen zeugen auch jetzt noch von der damaligen Blütezeit. Die Kranken legten viel Wert auf Garderobe und gepflegten Umgang. Sie besuchten abends schöne Konzerte und andere kulturelle Ereignisse. Die Krankheit hatte eine große gesellschaftliche Akzeptanz. So wie heute prominente Burnout-Opfer wie Fußballtrainer, Fernsehmoderatoren oder TV-Köche die Schlagzeilen bevölkern, waren damals viele Künstler und Politiker Patienten der angesehensten Nervenärzte. Und die Zahl der Neurasthenie-Diagnosen wuchs
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