Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
Erwartungen wurden. Sie durften nun auch organisiert auftreten und sich in den von ihnen gewählten Bereichen „abreagieren“. Das tolerierten die Männer durchaus, solange zu Hause alles im Fluss blieb. Doch die Tatsache, dass Frauen öffentlich wurden, hieß auch, dass sie den heimischen Herd verließen. Sie erkundeten andere Subkulturen der eigenen Gesellschaft und erweiterten ständig das Wissen und Weltwissen der Frauen. Daraus entwickelten sich zunehmend Forderungen: „Warum nicht eigentlich wir auch?“ Sie wollten wählen, Auto fahren, Sport treiben.
Rosa Luxemburg wurde eine Ikone auf politischer Ebene, später brachte Coco Chanel die Männerwelt ins Wanken: Sie befreite die Frau vom Mieder und trat in Männerkleidung auf. Selbstverständlich ritt sie im Herrensattel und in Hosen. Sie wurde als Exotin wahrgenommen und als Individuum geduldet. Männer fanden sie sogar reizvoll. Solange sie mit ihren spinnerten Ideen allein blieb, war das für die Männer in Ordnung. Doch dann traten die Irritationen auf: Coco Chanel ritt im Herrensitz einer Heerschar von Frauen voran, die ihr folgten und ihre Ansätze weitertrugen. Als aber die „normalen“ Frauen folgten und sogar die eigene Gattin plötzlich das Mieder ablegte, wurde die Sache schwierig.
Hose oder Rock?
So absurd es klingen mag: Selbst die Geschichte der Hose gibt Aufschluss über diese Entwicklung – nicht nur modisch inspiriert, sondern auch praktisch orientiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Hose als weibliches Kleidungsstück auf – und erfuhr zunächst gehörigen Widerstand. Dennoch: Nun hatten also die Frauen „auch die Hosen an“. Die Kleidungsetikette war auf den Kopf gestellt. Frauen konnten sich ungehinderter bewegen, wurden mutiger und selbstbewusster.
Der Kulturhistoriker Eugen Isolani stellte 1911 fest, dass noch nie eine neue Kleidermode solches Aufsehen erregt habe: „Man verfolgt Frauen, die es wagen, ihren Rock ganz tief oberhalb der Füße in zwei Teile [. . .] auslaufen zu lassen, so daß man diese Neuheit kaum bemerken und als Hose bezeichnen kann, mit spöttischem Gejohle auf den Strassen, so daß sich die unglücklichen Culotte-Trägerinnen in Häuser flüchten müssen. Und das geschah in Weltstädten, deren Bewohnerschaften gewöhnt sind, daß ihnen manche Extravaganz der Mode vorgeführt wird.“
Doch durch das Tragen von Hosen, Fahrradfahren und Reiten im Herrensitz entsteht noch lange keine Neurasthenie – und auch kein Burnout. Äußere Entwicklungen, insbesondere bei der Mode, sind ja immer Ausdruck von Entwicklungen, die sich im Innerrn der Menschen abspielen. Also: Was passierte da eigentlich in den Köpfen?
Die Umwälzungen lösten in der Gesellschaft nicht nur Freiheiten aus, sondern führten auch zu neuen Ansprüchen: Frauen merkten, dass sie mehr machen konnten. Doch mit den neuen Möglichkeiten entstanden auch neue Zwänge, Erwartungen und Druck.
Jeder Mensch hat die Möglichkeit, etwas zu tun, und muss gegebenenfalls die Entscheidung treffen, es nicht zu tun. Das grundsätzliche Problem: Eine Entscheidung gegen etwas „Normales“ ist gesellschaftlich weniger anerkannt. Der Entscheidende muss sich rechtfertigen, wenn er etwas nicht tut. Er kann gar ein Gefühl des Getriebenseins entwickeln: „Ich gehe nicht mit zum Wiener Opernball ... Ich gehe nicht arbeiten.“ So fallen Bereiche weg, in denen die gesellschaftliche Anerkennung vorher selbstverständlich war.
Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft begaben sich also in eine neue Rollenunsicherheit und mussten neuen Ansprüchen genügen, um Anerkennung zu erhalten. Das bedeutete Unsicherheit – und Stress: Die Garantie von Anerkennung und Zugehörigkeit war aufgelöst, althergebrachte Identitäten waren weggebrochen. Aber auch sämtliche weitere Schichten der Gesellschaft waren von Umwälzungen betroffen. Die Industrialisierung hat nicht nur den Begriff der Arbeit umgestaltet, sondern auch die Rollen von Mann und Frau. Und damit wurden Identifikationsmodelle und Rollenstrukturen aufgelöst, permanente Unsicherheit machte sich breit. Dort, wo Rollen und Erwartungsmuster sich auflösen, wo die festen Identitätsmuster entfallen, gibt es keine sichere Basis mehr. Der schwankende Boden fordert ständige Aufmerksamkeit und immer wieder neues Austarieren. Ein emotionaler Kraftakt, der in eine emotionale Erschöpfung führt. Und nichts anderes ist Burnout. Vor hundert Jahren wie heute.
Nach dem Krieg folgte in den Fünfziger- und
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