Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
damals genauso sprunghaft an wie heute die Zahl der Burnout-Fälle. Sigmund Freud schrieb Ende des 19. Jahrhunderts an seinen Freund Wilhelm Fließ: „Ich sehe jetzt soviel Neurasthenien, daß ich die Arbeit ganz wohl im Verlauf von zwei bis drei Jahren auf [Patienten dieses Typs] beschränken kann.“
Hedwig von Grünewald litt also an einer Art Modekrankheit. Und die ließ sie die Koffer packen für ihre Zeit in Baden-Baden. Sie sah der Entspannung im Sanatorium fast wie einer Art Sommerfrische entgegen. Es warteten Bäder und Bäderkuren auf die Nervenkranken, viel Ruhe und viel Essen. Die Behandlung verfolgte ein Ziel: Der nervöse Zustand des Patienten sollte wieder verstärkt zur Ruhe gebracht werden. Die Ärzte empfahlen Liegekuren mit viel Nahrungsaufnahme: „Ruh dich aus, mach ein wenig Wellness, lass mal die Seele baumeln, nimm eine Auszeit, lass es dir mal gutgehen“ – so weit war man also schon vor hundert Jahren!
Natürlich half diese Therapie genauso wenig wie heute. Festzuhalten aber ist: Nicht die Frauen und Männer am Band wurden krank, sondern die Frauen, die Muße hatten, die aus der bürgerlichen Gesellschaft kamen. Die Krankheit konnte also nicht auf die berufliche Mehrbelastung und die neuen Arbeitsanforderungen zurückzuführen sein. Wenn die Technisierung als Ursache für die Nervenschwäche demzufolge ausfällt, drängt sich die Frage auf: Was hat sich zeitgleich mit der Industrialisierung verändert? Welche gesellschaftliche Veränderung könnte der Auslöser für die Neurastheniewelle gewesen sein? Und gibt es dabei womöglich ebenso Parallelen zur heutigen Situation?
Weg vom Herd, raus in die Natur
Meine Großmutter wäre in diesem Jahr 111 Jahre alt geworden. Geboren 1900, fand sie in jungen Jahren zum „Wandervogel“ – zunächst im „Wehrbund Deutscher Jugend“ und schließlich im „Wandervogel Mädchenbund“. Sie war eine begeisterte Aktivistin dieser Bewegung, die für so viel mehr stand als für den Aufenthalt in freier Natur.
Die Wandervogel-Bewegung wurde 1896 in Steglitz durch Schüler und Studenten bürgerlicher Herkunft ins Leben gerufen, die sich in einer Phase fortschreitender Industrialisierung und angeregt durch Ideale der Romantik von den engen Vorgaben des gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln. Der Anstoß zu einer auf Dauer angelegten Organisation der Wanderaktivitäten ging von Karl Fischer aus, der 1901 für die Gründung des „Wandervogels“ als Verein sorgte. Mit dem Anwachsen der Bewegung, die sich binnen weniger Jahre über den ganzen deutschsprachigen Raum ausbreitete, kam es oft zu abweichenden Leitvorstellungen, die zu vielfältigen Abspaltungen und Neugründungen führten. Umstritten waren beispielsweise – die Mädchen.
Die jungen Wandervogel-Mädchen sahen bald in den immer stärker männlich dominierten Bünden keinen Platz mehr für sich: Sie sehnten sich nach Selbstständigkeit und eigenen Formen des weiblichen Wandervogel-Daseins. Eine Zeitzeugin von damals schrieb:
„Aber diese Art, einen Jungenbund zu gründen mit Mädchen darin, gibt zu denken und läßt nicht gerade einen Fortschritt erkennen. Sie gibt vielleicht einen Maßstab für das Niveau des Bundes in die Hand und zeigt, daß die Reife, die solch einem Bund Deutscher Jungen und Mädchen endlich einmal eine zähere Grundlage geben könnte, noch fehlt. Wir stehen wohl für die Notwendigkeit des getrennten Lebens. Aber solch ein Bund, wie wir ihn uns denken, erfordert eine bedingungslose Achtung der Geschlechter, um, wo es notwendig ist, eine fruchtbare Zusammenarbeit zu ermöglichen. An eben diese Haltung dort können wir nicht glauben“ (Die Wandervogel-Mädchen 1, 1926, S. 3).
Meine Großmutter hatte zwei Berufe erlernt; sie hatte als Buchhändlerin und als Krankenschwester gearbeitet, doch nach ihrer Eheschließung übte sie keine der beiden Tätigkeiten mehr aus. Sie war nur noch für Haushalt und Kinder zuständig. Ihr Potenzial lag weitgehend brach. Doch der Wandervogel-Bewegung ist sie immer treu geblieben. Die Aktivitäten in dieser Gemeinschaft schützten sie davor, sich zu erschöpfen, weil sie sich hier Felder suchte, in denen sie sich ausleben konnte.
Frauen mit weniger sportlichen Ambitionen engagierten sich bei den „Grünen Damen“: Hier kümmerten sie sich um die Kranken und Armen; dieses soziale Engagement war gesellschaftlich akzeptiert. Hier schufen sich die Frauen einen Kanal für ihr inneres Feuer
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