Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
er nur kurz das Zimmer verlassen hatte. Hoagland bat sie, ein Intervall von einer Minute zu schätzen. Die tatsächliche Länge ihrer >Minute< betrug 37 Sekunden. Je höher das Fieber, desto länger schien eine Minute für sie zu dauern. Der Gedächtnispsychologe Baddeley machte ein spiegelbildliches Experiment - besser gesagt: er ließ es durchführen -, indem er Versuchspersonen in Meerwasser mit einer Temperatur von vier Grad Celsius schwimmen ließ. In Übereinstimmung mit seiner Erwartung, zählten sie beim Wassertreten die Sekunden zu langsam ab.
Solange nichts manipuliert wird, können physiologische Prozesse sonderbar genaue Zeitmesser sein, selbst auf einer Skala von Jahren. Der französische Mikrobiologe Carrel hat in den dreißiger Jahren verschiedene Prozesse auf Zellebene identifiziert, die eine uhr- oder kalendermäßige Präzision haben. Die Geschwindigkeit zum Beispiel, mit der eine oberflächliche Wunde heilt, variiert mit dem Lebensalter. Diese Variation ist genau in Vergleichen zu beschreiben. Daraus kann man ableiten, daß die Wunde eines Zwanzigjährigen zweimal so schnell heilt wie die eines Vierzigjährigen. Wer Messungen an der heilenden Wunde durchführt, kann umgekehrt aus der Heilgeschwindigkeit das Alter des Patienten bestimmen. Für das Alter zwischen zehn und 45 Jahren ergeben diese Vergleiche verläßliche Schätzungen.
In unserem Körper ticken unzählige physiologische Uhren. Atmung, Blutdruck, Herzschlag, Hormonabgabe, Zellteilung, Stoffwechsel, Temperatur - all diese Prozesse haben ihren eigenen Zyklus und geben ihrerseits unserem Leben Rhythmus und Kadenz. Damit ist in Wirklichkeit nichts anderes gesagt, als daß allerhand physiologische Prozesse eine charakteristische Periodizität aufweisen. Diese Prozesse als >Uhren< zu bezeichnen ist eher eine Metapher als eine Erklärung, aber es ist immerhin eine Metapher, die interessante Fragen auslöst. Kann man biologische Uhren vor-oder nachgehen lassen? Kann man eine Uhr, die verkehrt schlägt, wieder richtig stellen? Herrscht im Körper auch eine Standardzeit, die durch ein zentrales Uhrwerk angegeben wird? Wo befinden sich all diese Uhren? Und vor allem: Gehen diese Uhren beim Älterwerden schneller oder langsamer?
Ein kurzer Rundgang durch die Uhrenabteilung unserer inneren Zyklen lehrt, daß man die schnellsten Rhythmen im Nervensystem findet. Manche Neuronen feuern mit einer Frequenz von tausend Impulsen pro Sekunde. Weniger hektisch sind die Zyklen der Gehirnaktivität, wie sie in einem EEG gemessen werden: zwischen acht und zwölf Zyklen pro Sekunde. Diesen schnellen Rhythmen stehen Zyklen gegenüber, die 24 Stunden umfassen, wie etwa die Schwankungen bei Körpertemperatur und Blutdruck. Von den Zyklen, die länger als einen Tag dauern, ist der Menstruationszyklus der wichtigste. Der durchschnittliche Menstruationszyklus umfaßt einen >Mond-Monat< von 29,5 Tagen. Jährliche Zyklen zeigen sich bei Gewichtszunahme und der Kondition des Immunsystems. Irgendwo zwischen dem schnellsten und dem langsamsten Zyklus tickt die einzige Uhr, die wir hören und fühlen können, das Herz, ein pumpender Muskel, dessen Anspannung und Entspannung durch eine sorgfältig eingestellte Sammlung von Chronometern dirigiert wird. Der Einblick in den Rhythmus dieser natürlichen Uhren ermöglicht es, Schrittmacher zu entwerfen, die mit Reizströmen den Takt in einem Herzen regeln, das durcheinandergeraten ist.
Tagesrhythmen können aus einer Person einen ausgesprochenen Morgen- oder Abendmenschen machen. Bei Morgenmenschen steigt die Temperatur schon in den frühen Morgenstunden, um gegen vier Uhr nachmittags den Gipfel zu erreichen und dann wieder abzusinken. Ihre Körperuhren haben einen stundenlangen Vorsprung gegenüber denen von Abendmenschen, die mit einem späteren Temperaturgipfel abends noch munter und aktiv sind. Je älter wir werden, desto weiter rücken die biologischen Uhren auf den Morgen zu, und die Unterschiede werden geringer. Diese Synchronisation des Lebensabends geht mit einer Verlangsamung des Lebenstempos einher, was dazu führt, daß sich Jugendliche an Bahnhöfen und auf dem Postamt ab und zu nach der Einrichtung von speziellen Seniorenschaltern sehnen.
Die Probleme mit dem Schlaf- und Wachzyklus, die im Alter auftreten, sind möglicherweise die Folge des Verlusts von Zellen im suprachiasmatischen Kern (SCN). Dieser SCN - intakt nicht größer als ein einziger Kubikmillimeter - umfaßt etwa 8.000 Zellen und liegt dicht über
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