Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
unaufhörlich derselbe Tag, der sich in meiner Zelle breitmachte.«
Es gibt noch eine zweite Komplikation, die sich zum ersten Mal in experimentellen Zeitstudien zeigte. Als er darüber schrieb, wie sich die Jahre scheinbar verkürzen, wenn wir älter werden, sprach William James über »ausgehöhlte« Jahre. Thomas Mann schrieb über das schnelle Verstreichen »leerer und unbedeutender Jahre«. Aber was ist das experimentelle Äquivalent zu ausgehöhlter, leerer Zeit? Ein Intervall ohne Stimuli? Das kann kein einziger Versuchsleiter seinen Versuchspersonen anbieten, selbst dann nicht, wenn es ihm gelingen würde, alle Sinnesreize zu verbannen. Niemand kann sich ganz blanko machen und ein vollkommen leeres Stück Zeit erfahren. Leere Zeit gibt es ebensowenig wie das absolute Vakuum, es saugt sich heimlich mit Gedankenfetzen, Wahrnehmungen, Erinnerungen voll. Die vielen Experimente mit >lee-rer< Zeit - in der schwachen Bedeutung von: ein Intervall, in dem die Versuchsperson keine Reize angeboten bekommt - haben auch nur schwierig miteinander in Einklang zu bringende Ergebnisse geliefert. Meumann fand schon 1896 heraus, daß ein tickendes Intervall für länger gehalten wird als ein ebenso langes >leeres< Intervall, in dem es nicht tickt. Aber dieses Verhältnis gilt nur bei unter zehn Sekunden, darüber hinaus wird die >leere< Zeit gerade wieder länger geschätzt. Und wenn man kein Ticken hört, sondern irritierenden Lärm, fand wieder ein anderer Forscher heraus, wirkt dieses Intervall länger als ein >stilles< Intervall.
Wer Leonard Doobs Patterning of time liest, einen eleganten und gelehrten Abriß über fast hundert Jahre Zeitstudien, oder das neuere A watched pot von Michael Flaherty, muß feststellen, daß die Grenzen all dieser Forschung bereits vor dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch Wilhelm Wundt und William James gezogen worden sind. Beide waren fasziniert von den Verzerrungen, die in Zeitschätzungen auftreten. Wundt behandelte sie genau wie die visuellen Sinnestäuschungen, denen sie in vielerlei Hinsicht auch ähneln, wie das Intervall, das nach einem langen Intervall kurz scheint. Mit seinem Taktir-Apparat beeinflußte er die Variablen sorgfältig eine nach der anderen und wartete ab, welche Wirkungen sich auf Dauer oder Tempo zeigten. Es waren kleine Fragen, die er stellte, aber die Antworten waren exakt und kontrollierbar. James stellte große Fragen. Er wollte wissen, weshalb eine Woche Urlaub beim Nachhausekommen länger scheint oder weshalb ein Monat, den man krank verbringt, im Gedächtnis anschließend zu einer Länge von vielleicht einer Woche schrumpft. Für die Antworten zog er seine eigenen Erfahrungen oder die von anderen, von Literatur und Gesprächen zu Rate. Man konnte die Erfahrungen teilen oder nicht, sie experimentell zu bestätigen -oder zu widerlegen - war ausgeschlossen. Warum das Leben schneller vergeht je älter wir werden, ist eine Frage, die in Wundts Arbeit folglich auch nicht gestellt wird. Wer darauf eine Antwort wünscht, die auf Analyse beruht, wird etwas von der Schönheit der Frage preisgeben müssen. In neueren Untersuchungen zu Zeit und Gedächtnis wurden drei Mechanismen identifiziert, die mit der Beschleunigung der Jahre in Zusammenhang gebracht wurden. Der erste Mechanismus ist ein Phänomen, das unter dem Begriff >Teleskopie< bekannt ist, beim zweiten handelt es sich um den im vorherigen Kapitel besprochenen Reminiszenzeffekt, und der dritte hat mit der Geschwindigkeit der physiologischen Uhren in unserem Körper zu tun.
Teleskopie
Als Ferdi E., Entführer und Mörder von Gerrit Jan Heijn, Hafturlaub bekam, der seiner endgültigen Freilassung voranging, war eine der allgemeinen Reaktionen: »Hat er seine Strafe jetzt schon abgesessen? Wie lange ist die Entführung denn schon her?« Für die meisten Leute lag die Antwort - Heijn wurde am 9. September 1987 entführt - weiter in der Vergangenheit, als sie dachten. Der Psychologe Sully erwähnte bereits 1881 einen ähnlichen Fall auch mit einem Verbrechen, das viel Aufsehen erregt hatte und bei dem die drei Jahre Zwangsarbeit, die verhängt worden waren, im Erleben der Öffentlichkeit nur so verflogen waren. Sully erklärte die Unterschätzung des zeitlichen Abstands mit der Analogie eines Fernglases: die Einzelheiten, die einem noch scharf vor Augen stehen, erwecken den Eindruck, als sei das Ereignis viel näher als in Wirklichkeit.
1955 entdeckte der amerikanische Statistiker Gray eine Eigenart in der
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