Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Wegweiser an die Straße gesetzt, die von einem Punkt ausgehend in verschiedene Richtungen auseinanderlaufen. Auf jeden Fall gibt es diese Seltsamkeit, daß sich die Ketten sozusagen nebeneinanderlegen können, um untereinander verglichen zu werden.« Mehrere heutige Autoren haben in ihren Theorien über Zeitbeziehungen im autobiographischen Gedächtnis einen Ort für solche Erkennungspunkte eingeräumt: Conway nennt sie >reference points<, Shum >tempo-ral landmarks<. Wie sie auch immer genannt werden mögen - solche Erinnerungen sind die Zeitzeiger im Gedächtnis, sie versetzen einen in die Lage, festzustellen, wie lange etwas her ist oder ob es vor oder nach etwas anderem geschah, manchmal sogar, an welchem genauen Datum.
Erst in den Momenten, in denen man eine Erinnerung nur mit großer Mühe datieren kann, sieht man, wie die eigenen Zeitzeiger arbeiten. Oft schießt die Erinnerung eine Weile auf der Zeitachse der Vergangenheit hin und her, und immer wieder gibt es ein >aber< als Wendepunkt: Es war nach 1993, denn X arbeitete schon bei uns - aber Nachbar Y war noch nicht umgezogen, denn ich erinnere mich, daß ich mich noch mit ihm darüber unterhalten habe, also war es vor 1995 - aber Z wohnte noch zu Hause, also muß es nach September 1994 gewesen sein - aber es war ein sehr schöner Herbsttag, also ungefähr Oktober 1994, oh ja: es geschah an dem Tag, bevor wir in die Herbstferien fuhren. Erkennungspunkte lassen die Erinnerung zwischen zwei immer engeren Endpunkten hin- und herspringen. Die Schemata, die Zeitbeziehungen zwischen Erinnerungen ordnen, sind genauso individuell wie die Erinnerungen selbst. Sie haben eine Farbe, eine Stimmung. Sie verbinden eine Kette von spezifischeren Assoziationen, zum Beispiel, welche Freunde man damals hatte oder womit man sich täglich beschäftigte. Das Schema »als ich bei P arbeitete« aktiviert andere Erinnerungen als das Schema »als ich in Q wohnte«, auch wenn die beiden Schemata in der Zeit genau zusammenfallen würden. Zeitzeiger können tatsächlich, wie Ribot schrieb, nebeneinandergelegt und verglichen werden.
Shum muß auch von der beiläufigen Bemerkung Ribots angeregt worden sein, daß die Erkennungspunkte um so zahlreicher sind, je abwechslungsreicher das Leben ist. Er legt dar, daß der Reminiszenzeffekt, die relative Leichtigkeit, mit der sich Altere an Ereignisse erinnern, die um ihr zwanzigstes Lebensjahr liegen, eine Folge der Tatsache ist, daß für diesen Zeitraum mehr Zeitzeiger vorhanden sind. Wenn Zeitzeiger wirklich Netzwerke von Assoziationen ordnen, wie die Analyse zu beweisen scheint, können dieselben Zeitzeiger auch Erinnerungen auslösen, und es gibt demnach einen positiven Zusammenhang zwischen der Menge an Zeitzeigern und der Dichte der Erinnerungen. Typische Zeitzeiger sind »meine erste Begegnung mit ...«, »das erste Mal, als ich ...«, »als ich anfing zu ...«, Stück für Stück auch die Erinnerungen, die so viel zum Reminiszenzeffekt beitragen. Zeitzeiger, kurzum, zeigen nicht nur, sie locken auch die Grübeleien des Alters an.
Shum hat diese Theorie selbst nicht in Zusammenhang mit der Erfahrung gebracht, daß das Leben schneller zu gehen scheint, je älter man wird, aber das ist der sich unmittelbar anschließende Gedanke. Eine Periode, die viele Erinnerungen auslöst, wird sich im Rückblick ausdehnen und scheint länger gedauert zu haben, als ein genauso langer Zeitraum, der wenig Erinnerungen enthält. Umgekehrt werden die Zeitzeiger im mittleren Alter und später immer spärlicher werden, und in dieser Leere wird sich die Zeit subjektiv beschleunigen. Das ist eine Erklärung, die auf den ersten Blick sehr daran erinnert, was William James über die lebendigen, aufreibenden Erinnerungen aus der Jugend und die Einförmigkeit und den Trott späterer Jahre schrieb, aber was Shum dem hinzufügt, ist, daß der entscheidende Faktor durchaus die zeitliche Ordnung der Erinnerungen sein könnte: mit der Abwechslung verschwindet zugleich das Netzwerk von Zeitzeigern und damit ein wichtiger Zugang zu den Erinnerungen aus dieser Periode.
Physiologische Uhren
Manche physiologischen Faktoren, die das Erleben von Zeit beeinflussen, sind schon seit den dreißiger Jahren bekannt. Das Wissen, daß Körpertemperatur subjektive Zeit beschleunigen oder verlangsamen kann, ist einem Zufallsfund des amerikanischen Psychologen Hoagland zu verdanken. Seine kranke Frau warf ihm vor, er sei so lang weggeblieben, als er Medikamente holen sollte, obwohl
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