Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
der Stelle, an der sich die Augennerven kreuzen. Der SCN fungiert als Mutteruhr; bei einem Defekt an diesem einen Uhrwerk schlägt ein ganzer Satz von Uhren gleichzeitig verkehrt. Versuche haben gezeigt, daß der SCN durch Licht justiert wird. Daran hat der Neurotransmitter Dopamin einen wichtigen Anteil. Die Herstellung dieses Stoffs nimmt im Alter ab. Zellverlust im SCN und zuwenig Dopamin können einschneidende Probleme im Umgang mit der Zeit verursachen. Der amerikanische Psychologe Mangan sieht in dieser Störung die Erklärung für die Ergebnisse von Versuchen, in denen Altere schätzen sollten, wie lang es dauerte, bevor ein Intervall von drei Minuten vorbei war. Aus früheren Experimenten war bereits bekannt, daß die Fähigkeit, Zeit genau zu schätzen, bei Kindern mit zunehmendem Alter wächst, bei Zwanzigjährigen einen Gipfel erreicht und danach wieder abnimmt. Ältere Menschen sinken schließlich wieder auf das Niveau jüngerer Kinder ab. Mangan stellte fest, daß die Abweichung bei Älteren unveränderlich eine Überschätzung war. Er bat drei Altersgruppen (zwischen 19 und 24, 45 und 50, 60 und 70), ein Intervall von drei Minuten abzumessen, indem jeder für sich die Sekunden zählte. Die jüngste Gruppe tat das äußerst präzise, im Durchschnitt verlängerten sie jene drei Minuten nur um drei Sekunden. Bei der mittleren Gruppe war das Intervall 16 Sekunden zu lang. Bei den Älteren betrug die Abweichung 40 Sekunden. Daß die Zeit schnell verfliegt, wenn man intensiv mit etwas beschäftigt ist, zeigte sich in der zweiten Form des Experiments. Alle Versuchspersonen bekamen zur Ablenkung eine Sortieraufgabe vorgelegt und sollten erneut drei Minuten schätzen. Bei der jüngsten Gruppe verursachte die Ablenkung eine Überschätzung von 46 Sekunden, bei der mittleren Gruppe eine von 63 und bei der ältesten Gruppen nicht weniger als 106 Sekunden. Anders ausgedrückt: Nachdem die drei Minuten um waren, zählten die Älteren noch fast zwei Minuten dazu.
Scheinbar verändern wir uns im Alter in eine träge tickende Pendeluhr. Das Räderwerk läuft nicht unregelmäßiger als früher, mal zu schnell, dann wieder zu langsam - es dreht sich schlichtweg zu langsam, und das tut es ziemlich genau. Wer die Höhe seiner eigenen Abweichung wüßte, würde die Zeit noch ebenso verläßlich schätzen wie früher. Genau wie bei der antiken Sanduhr von Ernst Jünger mit seiner ausgeschliffenen Mitte muß man bei sich selbst mit fortschreitendem Alter eine Alterskonstante einrechnen.
Lassen sich diese drei Elemente - die Teleskopie, umgekehrt oder nicht, der Reminiszenzeffekt und Mangans Schätzungsversuche - zu einer überzeugenden Erklärung für die Beschleunigung der Jahre im Alter kombinieren? Die ehrliche Antwort ist: Nein. Die Ergebnisse der Versuche weisen schlichtweg nicht in dieselbe Richtung. Die älteren Leute von Mangan, die viel zu lange >Minuten< machen, zeigen damit, daß sie die Länge einer Minute überschätzen. Die Älteren von Crawley und Pring, die Ereignisse zuweit in der Zeit zurückdatieren, machen dasselbe mit der Periode zwischen jenem Ereignis und dem Jetzt, sie machen zu lange >Jahre<. Aber das Verhältnis zu der erlebten Schnelligkeit von Zeit ist umgekehrt. Hätten Mangans Versuchspersonen nach drei Minuten ein Zeichen erhalten, hätten sie bei sich gedacht: Sind denn jetzt schon drei Minuten vorbei? Die Versuchspersonen bei Crawley und Pring dagegen hätten bei sich gedacht: Ist es gerade mal neun Jahre her, daß dieses Flugzeug bei Lockerbie abstürzte (eine Katastrophe, die im Durchschnitt mehr als zweieinhalb Jahre älter datiert wurde), ich dachte, es sei viel länger her. Erst wenn jemand von etwas, was vielleicht vor zehn Jahren passiert ist, denkt, es sei fünf Jahre her, entsteht die Illusion, die dazwischenliegenden Jahre seien verflogen.
Den größten Halt bieten noch der Reminiszenzeffekt und die Verlangsamung der physiologischen Uhren. Ein Siebzigjähriger, der bei sich selbst nachforscht, ob die vergangenen fünf Jahre für sein Erleben schneller vergangen sind als früher, tendiert dazu, diese Jahre nicht mit der Periode zwischen seinem 43. und 48. oder der zwischen seinem 56. und 61. zu vergleichen, sondern mit den fünf Jahren an einer weiterführenden Schule oder einer ebenso langen Periode aus seinen Jahren als Jugendlicher und junger Erwachsener. Das ist in gewissem Sinn ein Vergleich von Extremen: man hält in Gedanken einen >vollen< Teil des Gedächtnisses neben einen
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