Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
manche denken nicht an Leben oder Sterben oder denken, daß sie es schon überleben werden. Die Überzeugung, in wenigen Augenblicken wirklich zu sterben, erwies sich als wichtiger Faktor. Personen aus dieser Gruppe berichteten viermal so häufig über eine Panoramaerinnerung. Auch Gefühle wie Verständnis, Glück und Weltentsagung kamen bei ihnen öfter vor. Schließlich machte auch die Ursache der Lebensgefahr einen Unterschied. Drohendes Ertrinken erbrachte die meisten Fälle von Panoramaerinnerungen (43 Prozent), danach Autounfälle (33 Prozent) und als letztes ein unerwarteter Sturz (9 Prozent). Dieses letzte Ergebnis ist nur schwer mit Heims Mitteilung zu vereinbaren, daß fast alle abstürzenden Bergsteiger eine Panoramaerinnerung hatten. Daß vor allem Menschen, denen Tod durch Ertrinken droht, günstige Bedingungen für eine Panoramaerinnerung schaffen, war auch der Eindruck, den Ring aus seinem Material ableitete.
Die Berichte weisen Konstanten auf, aber auch Unterschiede. Für alle war die Panoramaerinnerung eine überwiegend visuelle Erfahrung. Die Bilder waren klar und detailliert. Jeder sah die Bilder >außen< und empfand sich als Zuschauer. Keiner hatte das Gefühl, Einfluß auf die Wahl oder die Geschwindigkeit der Bilder zu haben, man schaute fasziniert, aber passiv zu. Die Bilder riefen hauptsächlich angenehme Gefühle auf. Es kamen viele Jugenderinnerungen darin vor, oft sah man sich selbst in der Szene. Die Unterschiede hatten mit der Reihenfolge in der Zeit zu tun. Manche erinnerten sich an einen rückwärts gerichteten Verlauf, andere an einen chronologischen. Bei manchen gingen die Bilder fließend ineinander über, für andere wiederum schien es, als würden einzelne Bilder sprunghaft aufeinanderfolgen. Nicht jeder sah ausschließlich Bilder aus seiner Vergangenheit, manche sahen >flash-forwards<, genauso klar wie die Erinnerungen, und fast immer stellten sie sich den Kummer der Angehörigen vor.
Erklärungen
Schon in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verwies Winslow auf die tröstende Kraft von Erinnerungen an die Kinderzeit in den letzten Momenten vor dem Sterben. Alte Men-sehen auf dem Sterbebett glauben manchmal, sich wieder mitten unter ihren Jugendfreunden zu befinden:
»Der Geist beschäftigt sich unter solchen Umständen eifrig mit der Betrachtung ländlicher Szenerien und angenehmen Erinnerungen an frühere Jahre, gepaart mit der unschuldigen Erholung und dem Reiz des Landlebens. All diese unschuldigen Träumereien und lieben Erinnerungen der jugendlichen Vorstellung scheinen sich in dieser feierlichen Stunde in all ihrer ursprünglichen Frische und Reinheit dem Gemüt aufzudrängen.«
Eine Panoramaerinnerung, meinte er, könne die beschleunigte Version dieses natürlichen Prozesses sein, erzwungen durch den plötzlich sehr nahen Tod. Die Hypothese von Noyes und Kletti geht in dieselbe Richtung. Auch sie waren durch den friedlichen Charakter der Bilder und die vielen Erinnerungen an eine sichere, glückliche Jugend tief bewegt. Gerade der Kontrast zwischen den Bildern und der lebensgefährlichen Realität ist für sie ein Hinweis darauf, daß die Panoramaerinnerung eine lebenswichtige biologische Funktion hat. Darin würde sie mit der >Depersonalisation< übereinstimmen, eine adaptive Reaktion, die das Bewußtsein in traumatischen Umständen vor Panik und Desintegration behüten soll. Depersonalisation geht mit einem verzerrten Zeiterleben einher, einer Beschleunigung des Denkens, einem Gefühl der Weltentsagung, dem Eindruck, plötzlich außerhalb der Realität zu stehen und Zuschauer des eigenen Handeln zu sein (siehe auch Seiten 197-205). Für Noyes und Kletti sind die Übereinstimmungen so suggestiv, daß sie die Panoramaerinnerung als einen besonderen Fall von Depersonalisation betrachten. Die Panoramaerinnerung bietet die Sicherheit eines zeitlosen Gebiets, in dem es keinen Tod gibt. Die bedrohte Person scheint sich blitzschnell aufzuspalten. Der eine Teil kommt in den Szenen vor, an die er sich erinnert, der andere Teil schaut als unbeteiligter Dritter zu. So entsteht die Weltentsagung, die Todesangst wirkungsvoll auf Abstand hält.
Die Hypothese von der Depersonalisation hat viel mit Pfisters Vorstellung gemein, das Unbewußte übernehme die Macht. Auch der dahinterliegende Gedanke, dies sei eine instinktive biologische Reaktion, stimmt überein. Aber was die Hypothese von der Depersonalisation dem hinzufügt, hat wenig Zustimmung finden können. Bei
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