Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
geistigen Inhalt auf einmal durchleuchtenden Klarheit« (Fechner). Diese gleichzeitige Anwesenheit paßt gut in De Quinceys Metapher von Erinnerungen, die »ausgebreitet sind wie in einem Spiegel«, und auch in Beauforts »Panoramarückblick«, aber nicht mehr in eine sequentielle Metapher wie den Film.
Statistik der Panoramaerinnerung
In viel größerem Ausmaß drohen solche Effekte in der umfänglichen Literatur über Nahtoderlebnisse. Nach der Veröffentlichung von Life after life (1975) des amerikanischen Arztes Raymond Moody entstand recht schnell ein Kanon der Nahtoderfahrungen. Moody hatte viele Berichte von Menschen gesammelt, die nach einem Herzstillstand reanimiert worden waren oder nach einer Operation eine Zeitlang klinisch tot gewesen waren. Nach Moody verwiesen die Übereinstimmungen in der Erfahrung - das Gefühl von Frieden, das Betreten eines Tunnels, das Verlassen des Körpers, die Begegnung mit einem Lichtwesen, die Entscheidung zur Umkehr - auf ein universelles Muster im Prozeß des Sterbens. Eines der Stadien in diesem Prozeß war nach Moody der >life review<, den er zwischen der Begegnung mit dem Lichtwesen und der Umkehr ansiedelte. Der Nahtote bekam unter der Regie der leuchtenden Gestalt Bilder aus seinem Leben zu sehen, eine Vorstellung, die mit dem Gefühl einherging, man ziehe die Bilanz seines Lebens. Moody zufolge bekamen viele Berichte über Panoramaerinnerungen den Charakter einer ruhigen Gesamtdarstellung des Lebens, und das Lichtwesen war ein Element, das in keiner der älteren Beschreibungen vorkam. In seinem Einfluß auf die Sprache, in der Menschen der Erfahrung der Panoramaerinnerung Ausdruck verleihen, steht Moody den Gebrüdern Lumiere in nichts nach.
Auf der Thermik östlicher Mystik schwebte die stereotype Nahtoderfahrung gegen Ende der siebziger Jahre ins kollektive Bewußtsein. Die Literatur, die auf Life after Life folgte, hat gigantische Ausmaße und umfaßt vor allem endlose Berichte über Begegnungen mit Wesen, die sich im Jenseits befinden sollen. Im selben Zeitraum führte man auch verschiedene systematischere Studien der Nahtoderfahrungen durch. Bei den Forschern handelte es sich meistens um Kardiologen, Psychiater oder klinische Psychologen, die aufgrund ihres Faches häufig mit Menschen zu tun hatten, die dem Tode nahe gewesen waren. Die Umfragen und Interviews erbrachten so viele Berichte über Panoramaerinnerungen, daß es möglich ist, einige vorsichtige Schlußfolgerungen über die Häufigkeit und den Zusammenhang mit Variablen wie Alter, Geschlecht, Art der Lebensgefahr usw. zu ziehen. Der Psychologe Kenneth Ring sammelte 102 Fälle von Menschen, die in Lebensgefahr geschwebt hatten. Die Umstände variierten: ernstliche Erkrankung (52), schwerer Unfall, Fast-Ertrinken oder Sturz (26) und Selbstmordversuch (24). Zwölf Personen berichteten, sie hätten eine Panoramaerinnerung gehabt. Davon stammten zehn aus der Kategorie unerwarteter und unbeabsichtigter Lebensgefahr. Lebensgefahr durch einen Selbstmordversuch führte nur in einem einzigen Fall zu einer Panoramaerinnerung. Diese Beobachtung schließt sich einer Untersuchung des Psychiaters David Rosen an. Er befragte sieben Menschen, die einen Sprung von der Golden-Gate-Brücke überlebt hatten. (Wer dort hinunter springt, berührt nach vier Sekunden und einem Fall über 75 Meter mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern die Wasseroberfläche. Lediglich ein Prozent überlebt den Sturz.) Keiner von ihnen hatte eine Panoramaerinnerung. Es scheint, daß die Erfahrung durch akute, aber nicht gesuchte Lebensgefahr ausgelöst wird.
Der amerikanische Psychiater Rüssel Noyes und der klinische Psychologe Roy Kletti befragten 205 Personen, die sich in Lebensgefahr befunden hatten. Sie schlüsselten die Ursachen für die Lebensgefahr detaillierter auf als Ring. Ihre Kategorien lauteten: Sturz (57), Autounfall (54), Ertrinken (48), ernsthafte Erkrankung (27) und sonstige Unfälle (29). Sechzig Personen sprachen von einer Panoramaerinnerung. Das Lebensalter schien Einfluß zu haben: unter zwanzig war die Chance auf eine Panoramaerinnerung bedeutend höher als in fortgeschrittenem Alter. Dasselbe gilt für die Beschleunigung des Denkens. In dieser Hinsicht waren Beaufort und Heim - 17 und 21 Jahre - repräsentativ für diesen Altersunterschied. Noyes und Kletti wollten auch wissen, ob die Befragten während der Lebensgefahr davon überzeugt waren, daß sie sterben würden. Das ist nicht selbstverständlich:
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