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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Störenfrieden bewahrt, indem er sie im Vorzimmer abfängt«. Oder, in einer weiteren Metapher: Das Vorbewußte »erfüllt die Aufgabe des Hotelportiers, der den Gast vor lästigen Besuchern schützt, wenn er auch nicht alle unangenehmen Einflüsse aus der Umgebung, alle unerwünschten Geräusche, Gerüche, Luftzüge fern zu halten vermag«. Das Bewußtsein hört lediglich ein leises Geräusch. Es wähnt sich in Sicherheit, es weiß nichts vom nahen Tod. Es verbringt seine letzten Augenblicke in einer angenehmen Illusion.
    Metaphern
    Die älteren Berichte über die Anlässe für Panoramaerinnerungen haben für den heutigen Leser fast etwas Ländliches. Es handelt sich um Unglücke, in denen sich das Alltagsleben des Menschen aus dem neunzehnten Jahrhundert spiegelt: Ein Pferd springt unerwartet zur Seite, und alle Insassen der Kutsche fallen ins Wasser, ein Junge muß Wasser aus dem Brunnen schöpfen und stürzt vornüber. Unsere Zeit hat neue Arten von Lebensgefahr mit sich gebracht: ein Flugzeug, das abstürzt, ein Fallschirm, der sich nicht öffnet, die Bedrohung durch einen Frontalzusammenstoß. Auch die Rettungen im letzten Moment haben sich verändert. Manche Menschen überleben dank Reanimation einen akuten Herzstillstand. Andere bekommen gerade noch rechtzeitig die Injektion, die eine Überdosis neutralisiert. Ob sich damit auch die Erfahrung der Panoramaerinnerung verändert hat, kann man nicht herausfinden. Das Bewußtsein ist ein Theater mit einem einzigen Sitzplatz, und was im Theater eines anderen aufgeführt wird, wissen wir nur aus zweiter Hand. Was sich ganz entschieden verändert hat, ist die Sprache, mit der die Panoramaerinnerung beschrieben wird. Die Erfahrung mag es zu allen Zeiten gegeben haben, die Metaphern, die Menschen benutzen, um anderen ihre Erfahrung zu verdeutlichen, sind zeitgebunden. Auch ohne das Wissen, daß der Arzt Winslow sein Buch über »die dunklen Formen der Hirnkrankheiten« in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlichte, ist eine Umschreibung wie:
    »Es geschieht nicht selten, daß sich bei Ertrinkenden, während sie mit dem Tode ringen, bei der Asphyxie (Erstickung) ... eine Reihe frappanter Szenen der seltsamsten Umstände aus ihrem früheren Leben zeigen. Ereignisse aus ihrer Kindheit drängen sich dem Geist dann mit unwiderstehlicher Kraft und photographischer Genauigkeit auf« sicher zu datieren: nach der Erfindung der Fotografie, vor der Erfindung des Films. Auch in älteren Umschreibungen aus der Zeit vor der Fotografie, treten Metaphern auf, die den visuellen Charakter der Erfahrung betonen. 1821 schrieb De Quincey in Confessions of an English opium-eater über ein neunjähriges Mädchen, das in einen Fluß gefallen war und kurz vor dem Ertrinken war, »als sie in einem einzigen Augenblick ihr ganzes Leben sah, mit all seinen vergessenen Vorfällen, vor ihr ausgebreitet wie in einem Spiegel, nicht nacheinander, sondern gleichzeitig; und sie hatte genauso plötzlich die Fähigkeit erlangt, das Ganze und jedes Teil zu verstehen«. Francis Beaufort verglich seine Erfahrung mit einem »Panoramarückblick«, eine Metapher, die es zu dieser Zeit noch nicht so lange gab. Das erste umlaufende Gemälde, das von einem Zentrum aus betrachtet werden konnte, wurde 1787 patentiert. In diesem Patent hatte eine derartige Konstruktion noch keinen Namen, die Bezeichnung >Panorama< (von >pan<, alles, und >horama<, Sicht), kam erst um 1800 in Mode. Das >Panorama< in der Bedeutung eines weiten Blicks über eine Landschaft folgte auf die gemalten Panoramen. Als Beaufort 1825 seinen Bericht schrieb, war das Panorama noch eine verhältnismäßig junge Metapher für das, was mit einem einzigen Blick überschaut werden kann.
    Die neueren Berichte vergleichen die Panoramaerinnerung mit den unterschiedlichsten Bildträgern. Ein Motorradfahrer, der auf einer schlecht beleuchteten Straße erst im letzten Moment ein stillstehendes Auto sah und frontal dagegenprallte, verglich seine Erfahrung mit einer Diavorführung, einer Reihe einzelner Bilder, die sehr schnell hintereinander projiziert wurden. Jemand, der einen Sprung mit einem sich nicht öffnenden Fallschirm überlebte, sagte, es schien, als wäre sein Kopf ein Computer, den jemand in wenigen Augenblicken mit den Bildern eines ganzen Lebens fütterte. Ein Vietnamsoldat, dem das rechte Bein und der rechte Arm weggerissen worden waren, erinnerte sich, daß sich sein ganzes Leben »wie ein sehr schneller Computer«

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