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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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oder von hinten nach vorn - alle Berichte vermelden, der >Film< laufe so schnell ab, daß es scheint, als würden die Bilder außerhalb der normalen Zeit stehen. Warum sollte sich mit dem Wechsel von >innen< und >au-ßen< auch die Zeit verändern? Halluzination kann höchstens ein Teil der Geschichte sein.
    Die Theorie, die mit Abstand das weiteste Netz über die Panoramaerinnerung zu werfen versucht, ist aus drei Forschungslinien geknüpft: die Biochemie des Gehirns, Epilepsie und Aktivität im Hippocampus. In den siebziger Jahren entdeckte man in Gehirnextrakten Eiweiße mit opiumartigen Eigenschaften. Diese Endorphi-ne sind Neurotransmitter, die der Körper in Reaktion auf Schmerz und Streß selbst herstellt, es sind endogene Morphine. Sie dämpfen Schmerzreize und verursachen ein Gefühl von Wohlbefinden und Euphorie. Sie sind für den >runner's high< und den euphorischen Rausch nach einem Fallschirmsprung verantwortlich. Aber Endorphine haben bei Epilepsiepatienten einen unglücklichen Nebeneffekt: Sie senken die Schwelle für Anfälle. Über den Mechanismus, der dahintersteckt, ist man sich nicht im klaren, vielleicht dämpfen Endorphine die Aktivität von Neuronen, die gerade die Aufgabe haben, die Aktivität der Neuronen zu blockieren, die bei einem epileptischen Herd betroffen sind. Bei einer spezifischen Form von Epilepsie, der Temporalepilepsie, die im Kapitel über Dejä-vu-Erlebnisse bereits zur Sprache kam, wird der Anfall manchmal durch Phänomene angekündigt, die einer Panoramaerinnerung sehr ähnlich sind - ein gestörtes Zeitgefühl, Halluzinationen, die Erkenntnis, sich selbst von außen zu betrachten, das Gefühl von Vertrautheit, >flash-backs<. Der französische Neurologe Frere hat bereits 1892 auf die Übereinstimmung mit der Panoramaerinnerung hingewiesen. Die Parallele suggeriert einen Zusammenhang mit einer Aktivität im Schläfenlappen.
    Neben der Rolle von Endorphinen und dem Anteil des Schläfenlappens gibt es noch ein drittes Element in der neurologischen Erklärung für die Panoramaerinnerung. Elektrische Reizung der Amygdala (des Mandelkerns) kann Angstgefühle oder aber heitere Entspannung verursachen. Der nahe gelegene Hippocampus ist unentbehrlich für die Speicherung autobiographischer Erinnerungen. Die Reizung des Hippocampus führt zu äußerst klaren und detaillierten >flash-backs<. Die Neuronen im Hippocampus sind empfindsamer für spontane Entladungen als sonstige Neuronen im Gehirn. Der Ursprung vieler Formen von Epilepsie, vorübergehendem Gedächtnisverlust und Dämmerzuständen liegt in einer Störung des delikaten Gleichgewichts im Hippocampus.
    All diese neurologischen Befunde, Vermutungen und Analogien lassen sich zu folgendem Verlauf kombinieren: In den ersten paar Sekunden des Schreckens und des Entsetzens wird eine große Menge Adrenalin freigesetzt. Das Gehirn gerät in einen Zustand höchster Aktivität. Gedanken und Reaktionen folgen so schnell aufeinander, daß die Zeit auszusetzen scheint. Danach führen Streß, Schmerz, Sauerstoffmangel oder um welche spezifischen Umstände der Lebensgefahr es sich auch handeln mag zur Herstellung von Endorphinen. Diese betäuben den Schmerz, dämpfen die Sinnesorgane und lassen dem Tumult der instinktiven Angstreaktionen eine ruhige Stimmung folgen. Aber dieselbe Betäubung enthemmt Teile des Gehirns, die mit Erinnerungen und Zeitempfinden zu tun haben. Die spontane Aktivität von Neuronen im Hippocampus, dem Mandelkern und anderen Teilen des Schläfenlappens projiziert eine Reihe von Bildern in das Bewußtsein, in aller Eile zum Vorschein erzeugt und schlampig montiert. Beängstigende Szenen werden nicht gezeigt, oder besser: in seinem Zustand entspannter Betäubung oder regelrechter Euphorie sieht der Zuschauer alles in einem wohltuend heiteren Licht. Mit diesen Bildern vor Augen verliert er schließlich das Bewußtsein oder kehrt der Schmerz wieder zurück. In beiden Fällen sind die Bilder verschwunden.
    Was Albert Heim während seines Sturzes erlebte, paßt fast sekundengenau in diese Beschreibung. Als Heim das Gleichgewicht verliert und zu seinem Entsetzen an den Rand des Abgrunds rutscht, krallt er sich in einem Reflex in den Schnee. Er ist unempfindlich gegen Schmerzreize, daß er mit seinem Kopf gegen die Felsen schlägt, hört er nur. In seinem Zustand erhöhter Aktivität schießen die Gedanken über seine Chancen rasendschnell durch sein Bewußtsein. Er denkt an das Fläschchen mit Essigäther, seinen Bergstock,

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