Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
entfaltete. Eine Frau, die ihre Erinnerungen in Schwarzweiß sah, verglich ihre Erfahrung mit dem Betrachten eines altmodischen 35mm-Films, in dem die Bilder ruckartig hüpften. Für einen Mann, der als zehnjähriger Junge fast ertrunken wäre, ähnelte der Wechsel dem Aufblitzen von Stroboskoplichtern. Aber die meistverwendete Metapher ist die des Films oder Videos und damit verbundene Begriffe wie >flash-back<, >replay< und >slow-motion<. Daß der Film als Metapher eine große Anziehungskraft hat, wurde unbeabsichtigt bereits von Albert Heim demonstriert. In seinem ersten Bericht von 1892, drei Jahre vor der ersten Vorstellung der Gebrüder Lumie-res, benutzte er eine Theatermetapher: »Dann sah ich wie auf einer Bühne aus einiger Entfernung mein ganzes vergangenes Leben in zahlreichen Bildern sich abspielen. Ich sah mich selbst als die spielende Hauptperson.« In dem Bericht, den er 1929 für Pfister verfaßte, tauchte dieselbe Theatermetapher wieder auf, aber er schrieb auch: »Ich kann es vielleicht am ehesten vergleichen mit Bildern eines sprunghaften Films«, und er sah seine Erinnerungen wie »Projektionsbilder an einer Wand«.
Film ist eine Metapher, die dem überwiegend visuellen Charakter des Panoramagedächtnisses und dem >Äußeren< der Bilder gerecht wird. Jemand, der sagt, sein Leben sei an ihm vorbeigezogen, legt damit Spannung auf ein ganzes Netzwerk von Assoziationen. Filme haben auf unterschiedlichen Ebenen ein Verhältnis zur Zeit. Jeder weiß, daß Filme beschleunigt oder verlangsamt gezeigt werden können und daß das Auswirkungen hat auf die Gefühle, die Szenen hervorrufen. Auch in normaler Geschwindigkeit projiziert kann ein Film durch die Montage >schnell< oder >langsam< sein. Filme können der Chronologie der Ereignisse folgen oder gerade mit >flash-backs< und >flash-forwards< einen Eingriff daran vornehmen. Eigenschaften der Panorama-Erinnerung, die mit der subjektiven Geschwindigkeit und der Richtung von Zeit zu tun haben, lassen sich sehr natürlich in der Filmmetapher ausdrücken.
In der Schlußszene des Films American Beauty (1999) spielt man mit den verschiedenen Zeitebenen ein suggestives Spiel. Der Film handelt, grob skizziert, von der Midlife-crisis des 42jährigen Lester Burnham, gespielt von Kevin Spacey. Gegen Ende des Films schießt ihm eine der anderen Personen in den Kopf. Nachdem das Geräusch des Schusses verhallt ist, wird alles still. Dann erklingt leise ein Klavier, kurz darauf eine Geige, und eine Stimme, die Lesters, beginnt zu sprechen: »Ich hatte immer gehört, daß in der Sekunde, in der man stirbt, das gesamte Leben eines Menschen vor seinen Augen vorbeihuscht. Zuallererst: Diese eine Sekunde ist überhaupt keine Sekunde, sie erstreckt sich über eine Ewigkeit, wie ein Ozean von Zeit. Für mich war das: auf dem Rücken im Pfadfinderlager liegen und die fallenden Sterne betrachten. Und die gelben Blätter der Ahornbäume, die unsere Straße säumten. Oder die Hände meiner Oma und ihre Haut, die wie Papier wirkte. Und das erste Mal, daß ich den funkelnagelneuen Firebird meines Cousins sah. Und Jamie. Und Jamie. Und Carolyn ...« Inzwischen schwenkt die Kamera über Schwarzweiß-Szenen, einen Jungen, der auf dem Rücken liegt und zu den Sternen schaut, Ahornbäume, alte Hände, einzelne Bilder, die langsam vorbeigleiten, als wäre diese eine Sekunde wirklich ein Ozean von Zeit geworden.
Solche Szenen kennzeichnen einen seltsamen Zyklus. Sobald wir in einem Film friedliche >flash-backs< mit Szenen aus dem Leben einer der Personen sehen, manchmal in Schwarzweiß, manchmal in >slow-motion<, wissen wir, daß er stirbt. Damit ist die Metapher vom Film für die Erfahrung der Panorama-Erinnerung selbst zu einem cinematographischen Verfahren geworden. Darin liegt auch ein Risiko. Metaphern, die zu Gemeingut werden, haben einen uniformierenden Effekt auf die Art und Weise, wie Menschen ihre Wahrnehmungen beschreiben, und vielleicht auch darauf, wie sie auf ihre Erfahrung zurückblicken. Die Metapher vom Film selektiert - wie jede Metapher - spezifische Assoziationen und organisiert damit ihre eigene Perspektive. Die Folge ist, daß Eigenschaften, die sich nicht in filmischen Begriffen ausdriicken lassen, Gefahr laufen, schleichend aus Beschreibungen der Panoramaerinnerung zu verschwinden. Ein Beispiel dafür ist die in älteren Beschreibungen vorkommende Erfahrung, daß alle Erinnerungen in ein und demselben Moment im Bewußtsein vorhanden sind, mit einer »den
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