Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Ereignisse erfahren wir, als ob sie aus der Zukunft auf uns zu kommen, rückwärts, in Richtung der Vergangenheit. In Wirklichkeit, folgerte Bradley, muß man also die Frage so stellen: Warum bewegen sich Ereignisse rückwärts, während das Erinnern, ebenso wie die Zeit, vorwärts gerichtet ist?
Die Metapher für das Gedächtnis als Kamera, die erst X und dann Y aufnimmt und den Film auch nur in dieser Reihenfolge reproduzieren kann, gibt eine viel griffigere und anschaulichere Vorstellung dessen, was Bradley ausdrücken wollte, und wenn er seinen Artikel etwa zehn Jahre später geschrieben hätte, nach der Erfindung der Kinematographie, hätte er sich vielleicht der Filmmetaphern bedient. 1887 wurde die Theoriebildung über das Gedächtnis noch von der Metapher der Fotografie dominiert. Diese Metapher stützte die Vorstellung vom Gedächtnis als Instrument, das exakte, kopieartige Bilder speichert, die Auffassung also, die wir gemeinhin noch immer mit dem Begriff fotografisches Gedächtnis< assoziieren. Die Neurologie jener Zeit sah das Gedächtnis als Register unveränderlicher, dauerhafter Spuren, die nach Belieben zu einem bewegungslosen optischen Bild >entwickelt< werden können. Sowohl im Gedächtnis als auch auf der lichtempfindlichen Platte werden Bilder festgelegt - in der doppelten Bedeutung des Wortes. Darum konnte Bradley - indem er über die Richtung des Erinnerns schrieb
- auch nichts mit Fotografiemetaphern anfangen: was sich nicht bewegt, hat auch keine Richtung.
Man datiert die Erfindung des Films auf 1895, das Jahr, in dem die Brüder Auguste und Louis Lumiere ihre Kinematographen präsentierten. Die Lumieres betrieben in Lyon eine Fabrik für fotografische Platten. Es gelang ihnen, etliche Patente auf dem Gebiet der Fotografie für sich geltend zu machen. Anfang der neunziger Jahre gab es bereits verschiedene Verfahren, um einzelne Bilder schnell hintereinander zu projizieren und damit Bewegung zu suggerieren. Edison hatte 1891 einen >Kinetographen< (Kamera) und ein >Kinetoskop< (Projektor) patentieren lassen, aber die Bilder im Kinetoskopen konnten nur von einer Person gleichzeitig betrachtet werden, und die Bewegungen blieben hölzern. Nachdem die Lumieres 1894 in Paris an einer Vorführung des Kinetoskopen teilgenommen hatten, beschlossen sie, nach einem Verfahren zu suchen, das die Bilder schärfer aufnehmen und projizieren konnte.
Der entscheidende Schritt in der Erfindung des Films war der Transportmechanismus, den die Lumieres entwarfen. Der perforierte Zelluloidstreifen wurde durch eine Greifmechanik immer eine Position weitergeschoben. Die Belichtungszeit war auf ein Fünfundzwanzigstel Sekunde reduziert worden. Bei der Projektion - für die man denselben Apparat benutzte - blieb das Bild bei jeder Umdrehung zwei Drittel der Zeit vor der Projektionslampe stehen, gerade lang genug, um die Bilder auf dem Schirm scharf erscheinen zu lassen. Am 28. Dezember 1895 gaben die Lumieres in Paris ihre erste öffentliche Filmvorführung. Es war ein immenser und unmittelbarer Erfolg. Zwei Jahre später hatten die Lumieres in ihrem Katalog bereits 17 Filme, jeder ungefähr 17 Meter und je nach Projektionsgeschwindigkeit ungefähr eine Minute lang. Auf ihrem ersten Film sind die Arbeiter zu sehen, wie sie in ihrer Mittagspause die Fabrik in Lyon verlassen. Die Lumieres haben die hektischen Entwicklungen in der Filmtechnik noch zu einem großen Teil miterlebt: sie starben erst 1948 (Louis) und 1954 (Auguste).
Mit dem Kinematographen stand - nach der Fotografie - eine neue Metapher für das visuelle Gedächtnis zur Verfügung. Im Trimester 1902-1903 hielt Henri Bergson am College de France eine Reihe von Vorlesungen über Zeit. Bergson stellte sich in diesen Vorlesungen eine Frage, die noch hinter der von Bradley lag. Wie ist es möglich, daß wir ein Bewußtsein von Bewegung und Veränderung entwickeln, wenn sich unsere Erfahrung in Wirklichkeit aus einer unendlichen Reihe einzelner Sinneseindrücke zusammensetzt? Unsere Wahrnehmung nimmt jedenfalls »von der vorübergleitenden Realität sozusagen Momentbilder auf«, wie es Bergson ausdrückte. Aber unsere Erinnerungsbilder bewegen sich
- das ist das Mysterium. Bergson hielt seine Vorlesungen acht Jahre nachdem seine Mitbürger Lumieres ihre ersten Filmvorführungen gegeben hatten. Damit hatte er, im Gegensatz zu Bradley, acht Jahre vor dem Kinematographen eine technische Analogie mit konzeptuellen Möglichkeiten zur Verfügung, die in den
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