Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Fotografiemetaphern fehlten. Bergson wußte diesen Vorteil zu nutzen.
Angenommen, man will die Bewegungen eines Regiments marschierender Soldaten wiedergeben. Die richtige Methode, erklärte Bergson, ist dann, eine Reihe von Momentfotografien von diesem Regiment zu machen. Auf jedem dieser Fotos steht das Regiment regungslos. Egal, wie lange man auch darauf schaut, kein Soldat setzt sich in Bewegung, denn »auch aus dem unendlichsten Nebeneinander von Unbewegtem können wir niemals Bewegung schaffen. Sollen sich die Bilder beleben, so muß irgendwo Bewegung sein. Und in der Tat ist hier die Bewegung durchaus vorhanden, sie steckt im Apparat. Einzig dadurch, daß der kinematogra-phische Film sich aufrollt und die verschiedenen Photographien des Schauspiels dazu bringt, sich Stück für Stück aneinanderzufügen, gewinnt jede Figur des Schauspiels ihre Bewegtheit zurück.« Die schnelle Aufeinanderfolge statischer Bilder führt zu Bewegung, schloß Bergson. »Dies ist der Kunstgriff des Kinematographen. Dies ist auch der Kunstgriff unseres Erkennens.« Der Kine-matograph bot einen Ausweg aus dem Paradox der Bewegung aus Stillstand.
Auge in Auge mit einem antiken Filmprojektor aus Bergsons Zeit fällt es schwer, sich vorzustellen, wie überhaupt jemand in diesem Kasten aus Brettchen, Latten, Glas, Lampen, Ketten, Zahnrädern und Spulen jemals eine Analogie für das menschliche Gedächtnis hat sehen können. Ein Technikhistoriker könnte versuchen, dieses Erstaunen zu beseitigen, indem er darauf hinweist, daß der Kinematograph eine verblüffende Wirkung bei einem Publikum hinterließ, das zum ersten Mal mit einem prothedschen Gedächtnis für bewegliche Bilder Bekanntschaft machte. Die Vorstellungen in den Kinos - und Tagebücher, Briefe und Zeitungsberichte aus jener Zeit bestätigen das - hatten einen bezaubernden Effekt. Aber dies alles bleibt Rekonstruktion. Aufgewachsen mit den heutigen Informationsträgern kann man zwar versuchen, die Verwunderung früherer Generationen über Fotografie und Kinematographie heraufzubeschwören, diese Verwunderung aber auch wirklich zu erfahren ist unmöglich. Hundert Jahre nach den ersten Filmvorführungen ist die einstige Erschütterung nicht mehr aufzuspüren. Was Bradley über das menschliche Gedächtnis schrieb, scheint auch für das historische Gedächtnis zu gelten: es kann sich nur vorwärts bewegen.
Literatur
M. Amis, Time's arrow, London 1991.
H. Bergson, L'Evolution creatrice (1907). Zitiert aus: Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967.
F.H. Bradley, »Why do we remember forwards and not backwards?«, Mind., 12 (1887), 579-582.
J. Hanlo, Verzamelde gedichten, Amsterdam 1970.
G. Krol, Wat mooi is is moeilijk, Amsterdam 1991.
Die absoluten Gedächtnisse von Funes und Schereschewski
In einer der labyrinthischen Erzählungen des argentinischen Schriftstellers, Essayisten und Dichters Jorge Luis Borges (1899-1986) taucht ein gewisser Ireneo Funes auf, buchstäblich aus dem Dunkeln. Der Erzähler, 1884 auf einer Reise durch Uruguay, gerät eines Abends in einen aufkommenden Sturm. Der Südwind jagt eine riesige schieferfarbene Regenwolke vor sich her, die dem Himmel alles Licht entzieht. Aus der Dunkelheit erscheint plötzlich ein Junge. Jemand ruft ihm zu: »Wieviel Uhr ist es, Ireneo?«
Ohne an den Himmel zu schauen oder einen Blick auf eine Uhr zu werfen, ruft er zurück: »In vier Minuten acht, junger Herr Ber-nardo Juan Francisco.« Der chronometrische Funes< hat ein unfehlbares Zeitgefühl.
Als der Erzähler einige Jahre später wieder in Uruguay ist, erfährt er, daß Funes von einem ungezähmten Pferd abgeworfen wurde und seither gelähmt und ohne Hoffnung auf Besserung auf einem Feldbett liegt. Nach dem Sturz scheint er über zwei verblüffende Gaben zu verfügen: ein unendlich detailliertes Wahrnehmungsvermögen und ein absolutes Gedächtnis. Funes sieht, hört, schmeckt alles und vergißt nichts. Der Sturz hat sein Gedächtnis in ein perfektes Register verwandelt. Der Erzähler beschließt, Funes zu besuchen. Während er über den Innenhof zu dessen Zimmer geht, hört er jemanden einen lateinischen Text aufsagen. Es stellt sich heraus, daß das Ireneo Funes ist. Der invalide Junge beherrscht kein Latein, aber er hat auf seinem Feldbett den Text auswendig gelernt. Die Passagen, die er deklamiert,
stammen aus der Naturalis historia von Plinius, das vierundzwanzigste Kapitel des siebten Buchs - der Teil, in dem über das ehrfurchtgebietende
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