Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
her in der Zeit, aber bei der Reproduktion von Ereignissen kann man nur die Reihenfolge der Erfahrung beibehalten.
Das Gedächtnis >in den Rückwärtsgang< zu schalten klappt nur in Form eines Gedankenexperiments, und dann ist es auch eher eine Leistung unseres Vorstellungsvermögens und nicht des Gedächtnisses. Zweifellos wird einem dabei geholfen, weil man bereits rückwärts projizierte Filme gesehen hat und weiß, wie es aussieht, wenn jemand aus aufgewühltem Wasser heftig mit den Armen rudernd zur Seite springt und eine spiegelglatte Oberfläche hinterläßt. Sich rückwärts erinnern ähnelt rückwärts fahren mit dem Auto: es funktioniert zwar, aber man merkt an allem, daß Autos eigentlich nicht dafür gebaut sind. Rückwärts leben geht nur in Gedichten und Romanen, ln »Wij komen ter wereld« (Wir kommen zur Welt) des niederländischen Dichters Jan Hanlo zieht der Leichenwagen die Pferde an ihren Zügeln zurück ins Trauerhaus, wo sich die Trauernden rückwärts laufend zerstreuen. Einige Tage danach wacht der Tote auf. Als er gestärkt ist und genesen, beginnt er mit seiner Arbeit. Es gibt so viel zu tun: Brücken müssen abgebrochen werden, Städte niedergerissen, Kohlen und Öl müssen wieder unter die Erde. Die Arbeit erfrischt. Das Essen kühlt auf dem Herd ab. Am Ende des Lebens warten die Schulbänke: »Die Schulen sorgen dafür, daß man das Vergessen lernt.« Aber in diesem Gedicht wird nur gehandelt, nicht gesprochen. Sobald jemand das Wort ergreift, ist das Gedankenexperiment der rückwärts laufenden Zeit schon nicht mehr konsequent auszuführen. Der radikalste Versuch dieser Art ist Time's arrow von Martin Amis, ein Roman, der beim Tod der Hauptperson beginnt und von dort >zurückerzählt<. Obwohl die Dialoge falsch herum laufen, sprechen die Figuren ihre Worte und Sätze nicht in umgekehrter Reihenfolge. Sprache, die zurückgedreht läuft, versteht niemand. Rückwärts erzählen, was jemand sagt, schreibt der Schriftsteller Gerrit Krol in einem Essay über Zeit, erinnert an eine Kompaßnadel, die man kurz festhält. »Aber sobald man losläßt, springt sie wieder zurück in ihre alte Position. So spürt jeder Satz, wie man ihn auch kehrt oder wendet, die nicht einmal wahrnehmbare, aber überall vorhandene Kraft der standardisierten Zeit, und jeder Satz nimmt automatisch die Richtung einer mit der Zeit gehenden Erzählung an.« Letztendlich ist den Abweichungen von Konventionen gemein, daß sie denselben Konventionen nicht entkommen können.
Bradley suchte die Erklärung für die vorwärts gerichtete Wirkungsweise des Erinnerns in der biologischen Funktion des Gedächtnisses. »Weil das Leben ein Prozeß des Verfalls, der unablässigen Instandhaltung und des unaufhörlichen Kampfs gegen Gefahren ist, müssen unsere Gedanken, wenn wir am Leben bleiben wollen, auf unsere Erwartungen gerichtet sein.« Darwin war gerade erst fünf Jahre tot, da hatte auch die Interpretation der psychischen Funktionen einen darwinistischen Einschlag bekommen. Wir registrieren unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem Blick auf unser Handeln in der Zukunft; was in der Vergangenheit geschehen ist, ist nur insofern wichtig, als es uns in die Lage versetzt, zu antizipieren, was uns später passieren wird. So gesehen ist das Gedächtnis nicht auf das Vergangene, sondern auf das Zukünftige gerichtet, und daher steht auch das Erinnern mit dem Gesicht in Richtung Zukunft. Diese Erklärung schien mir überzeugend und natürlich: unser Gedächtnis ist offensichtlich so konstruiert, daß es in die Richtung weist, aus der die Veränderungen kommen. Behalten steht im Dienst der Erwartung.
Nachdem ich Bradleys Artikel gelesen hatte, fiel mir auf, daß ich seine Frage erst verstand, als ich sie für mich selbst in die Metapher für das Erinnern als Filmaufnahme >übersetzt< hatte, die man zwar hin- und herspulen, aber nur vorwärts abspielen lassen kann. Bradley, der 1887, also acht Jahre vor der Erfindung des Films, schrieb, hatte sich bei der Formulierung des Problems einer klassischen Metapher bedient: die Zeit als Fluß und die Ereignisse, die auf dem Strom vorbeitreiben. Aber die Arbeit mit dieser Metapher war hier und da ein bißchen mühsam. Ein Fluß an sich hat gar keine Richtung, erst mit Hilfe eines externen Punkts, eines Ufers oder eines Zuschauers, kann man sagen, in welche Richtung der Fluß fließt. Üblicherweise denken wir, daß sich der Strom der Zeit vorwärts bewegt, in Richtung der Zukunft. Aber die
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