Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
Erinnerungsvermögen von Cyrus, dem Perserkönig, berichtet wird, der die Namen aller Soldaten des Heers kannte, über Mithridates Eupator, der alle 22 Sprachen seines Reichs sprach, und über Simonides, den Erfinder der Mnemotechnik. Funes ist aufrichtig verblüfft, daß diese Geschichten Erstaunen wecken: für ihn ist es die normalste Sache der Welt.
    Daß Funes auswendig eine Passage über die kolossalen Gedächtnisse des Altertums rezitiert, ist ein Spiegeleffekt von Borges, aber er zeigt damit auch, daß das Gedächtnis von Funes alle Legenden aus der Geschichte übertrifft. Das Erinnerungsvermögen des Jungen ist absolut: »Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 - und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte. (...) Ebenso erging es Funes mit der zerzausten Mähne eines Pferdes, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit dem wandelbaren Feuer und der unzählbaren Asche, mit den vielen verschiedenen Gesichtern eines Verstorbenen während einer langen Totenwache.« Er erinnert sich nicht nur an »jedes Blatt, jeden Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte.«
    »Ich allein habe mehr Erinnerungen«, berichtet er von seinem Feldbett aus, »als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht.« Er hatte das Gefühl, vor seinem Sturz blind und taub gewesen zu sein, die Lähmung, fand er, war ein geringer Preis für ein unfehlbares Wahrnehmungsvermögen und Gedächtnis.
    Aber aus dem Gespräch mit Funes entsteht allmählich das Bild eines Jungen, der nicht nur körperlich, sondern auch geistig behindert ist. Sein absolutes Gedächtnis ist eher ein Fluch als ein Segen. Funes liegt soviel wie möglich im Dunkeln, um die Menge der Eindrücke zu begrenzen. Tagsüber schließt er die Augen oder starrt auf ein Spinnennetz. Erst gegen Abend läßt er sein Feldbett zum Fenster schieben. Sein Gedächtnis gönnt ihm keinen Moment Ruhe. Er hat Schlafprobleme: auf seinem Feldbett auf dem Rücken liegend sieht Funes in seiner Vorstellung Stück für Stück jeden Spalt, jeden Häusersims, der ihn umgibt. Um einschlafen zu können, stellt er sich unbekannte Häuser vor, die er sich schwarz denkt, und konzentriert sich dann auf ihre gleichmäßige Dunkelheit. Die unerträgliche Fülle seines Daseins erfährt ein Ende, als er 1889, noch keine 21 Jahre alt, an einer Lungenblutung stirbt.
    Die Geschichte über Funes erschien 1942 in La Nation. Borges nahm sie 1944 in die Erzählungen Ficciones auf. In seinem sowieso schon leicht zerebralen Werk ist Ireneo Funes ein wandelndes Gedankenexperiment, wenn man sich so über einen Gelähmten äußern darf. Denn tatsächlich: welche Konsequenzen hat ein absolutes Gedächtnis? Was bedeutet eine Erinnerung für jemanden, der dauerhaft darüber verfügen kann? Die Geschichte von Funes, sagt Bell-Villada, einer der Exegeten von Borges, ist ein philosophisches Essay über Wissen und Erinnerung, verkleidet als literarische Erzählung. Da liegt er sicherlich nicht falsch. Die Geschichte enthält Borges' Antwort auf die Frage: Angenommen, jemand sieht alles und kann nichts vergessen, wie sehen dann sein Denken, Handeln und Erleben aus? Indem er über Funes schrieb, hat Borges, in einer gelungenen Metapher Bell-Villadas, die Realität des normalen psychischen Lebens durch das Prisma seiner Phantasie geführt. Und durch Umstände, von denen Borges selbst nichts wußte, als er diese Geschichte schrieb, sind die Schlußfolgerungen seines Gedankenexperiments an einer sorgfältig dokumentierten Fallstudie zu testen.
    S., Gedächtniskünstler
    In einem anderen Teil der Welt, in einem anderen Jahrhundert, gab es wirklich einen Mann mit einem Gedächtnis wie dem von Funes. Sein Name war Solomon Schereschewski, ein russischer Jude, sein Geburtsjahr ist nicht genau bekannt. Er ist die Hauptperson einer Fallstudie, die der russische Neuropsychologe Alek-sandr Lurija (1901-1977) im Sommer 1965 schrieb und die 1968 als The mind of a mnemonist in Übersetzung erschien. Lurija traf
    Schereschewski Mitte der zwanziger Jahre. Schereschewski war damals um die dreißig - er hätte die Reinkarnation von Funes sein können - und arbeitete als Journalist bei einer Lokalzeitung. Lurija hat dieses Gedächtniswunder über dreißig Jahre lang regelmäßig Experimenten unterworfen.
    Die Geschichte von Schereschewski ist

Weitere Kostenlose Bücher