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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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kommen. Was gegen diese Erklärung spricht, ist, daß bei Menschen, die in eine wirklich lebensbedrohliche Situation geraten, zum Beispiel als Opfer eines bewaffneten Überfalls, gerade eine Art Blickverengung auftritt, so daß die Opfer später bei einer Personenbeschreibung zwar einen unruhig auf- und abhüpfenden Adamsapfel angeben können, aber nicht mehr wissen, ob der Täter eine Jacke trug.
    Brown und Kulik konnten die Blitzlichterinnerungen der Leute, die sie befragt hatten, nicht auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüfen. In den Studien, die auf ihre erste Veröffentlichung folgten, war die Zuverlässigkeit gerade der wichtigste Aspekt. Sind Blitzlichterinnerungen wirklich solch fotografisch getreue Kopien, wie die Analogie glauben macht? Und sind sie tatsächlich immun gegen Vergessen und Verzerrung? Der Psychologe Neisser bestritt sowohl ersteres als auch letzteres. Seiner Ansicht nach beruhen Blitzlichterinnerungen nicht auf einer Abweichung von der Kodierung, wie die Hypothese eines >now-print! ^Mechanismus suggeriert, sondern auf der Art und Weise, wie wir mit solchen Erinnerungen umgehen. Gerade bei schockierenden Nachrichten und Ereignissen ist die Chance groß, daß wir oft daran zurückdenken und mit anderen darüber sprechen. Die Wiederholung sorgt dafür, daß die Erinnerung gut gespeichert wird und später wieder leicht zugänglich ist. Kein inneres Foto also, eher eine Geschichte, die wir uns und anderen so oft erzählen, daß wir sie nicht mehr vergessen. Daher bekommt die Erinnerung allmählich auch, so Neisser, die Struktur einer Erzählung: Wo geschah es, von wem hörte ich es, wer war dabei, wie reagierte ich, genau die Elemente einer gut erzählten Geschichte.
    Geschichten, auch die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, verändern sich. Wie steht es mit der Geschichte einer Blitzlicht-Erinnerung? Als im Januar 1986 die Challenger explodierte, legten Neisser und sein Kollege Harsch innerhalb von 24 Stunden rund einhundert Studenten einen Fragebogen vor, in dem sie angeben sollten, wie sie die Neuigkeiten erfahren hatten, wo sie gewesen waren und was sie in dem Moment gerade getan hatten. Als sie 32 Monate später noch einmal befragt wurden, zeigte sich, daß bereits große Unterschiede zu ihrem ersten Bericht entstanden waren, sogar bei Fragen, die sich darauf bezogen, von wem sie die Nachricht gehört hatten oder wer sonst noch dabeigewesen war. Ein häufig gemachter Fehler war, daß im ersten Bericht nur neun Personen angegeben hatten, die Meldung aus dem Fernsehen zu haben; beim zweiten Mal war diese Zahl bereits auf 19 angestiegen. Offensichtlich hatten sich die vielen Wiederholungen der explodierenden Challenger in die Blitzlichterinnerung geschoben. Bei einem Viertel der Studenten waren alle Hauptsachen >falsch<. Als die Befragten mit einer Ziffer angaben, wie sicher sie sich einer bestimmten Antwort waren, zeigte sich nur eine geringe Korrelation mit deren Korrektheit. Blitzlichterinnerungen, schließt Neisser, weichen nicht von anderen autobiographischen Erinnerungen ab, sie sind genauso anfällig für das Vergessen.
    Einer der bekanntesten Erforscher des autobiographischen Gedächtnisses, Martin Conway, ist mit Neissers Schlußfolgerungen nicht einverstanden. In seinem Buch Flashbulb memories gibt er einen Abriß über die Erforschung der Blitzlichterinnerungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Was in Neissers Theorie nicht geklärt wird, ist die Hartnäckigkeit von Erinnerungen an unwichtige Details, die Zufälligkeiten, auf die auch Brown und Kulik bereits gestoßen waren. Die Blitzlichterinnerungen, die auf ein persönliches Ereignis Bezug nehmen, wie bei Frauen die Erinnerung an die erste Monatsblutung, enthalten sicherlich allerhand irrelevante, aber graphische Kleinigkeiten, die bei anderen autobiographischen Erinnerungen fehlen. Und Blitzlichterinnerungen, schreibt Conway, stehen einem auch mehr als Einheit vor Augen als >normale< Erinnerungen, die sich oft zum Teil aus Rekonstruktion und Interpretation zusammensetzen. Das Aufrufen von autobiographischen Erinnerungen verläuft meistens stufenweise, mit Erinnerungen, die allmählich schärfer und vollständiger werden; Blitzlichterinnerungen stehen - tatsächlich wie ein Foto - direkter zur Verfügung.
    Es scheint also, daß unsere Intuitionen diesmal richtig sind. Wenn wir an den Moment zurückdenken, in dem wir von Dianas Tod erfuhren, wissen wir wieder, wo wir waren, und vielleicht sogar, ob wir standen, saßen oder

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