Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
lagen. Das alles ist auf dem Erinnerungsbild, das unser Gehirn speicherte, während wir die Nachricht verarbeiteten. Dieses innere Foto - oder besser: ein kurzer Film - ist vielleicht nicht gerade immun gegen das Vergessen, aber doch dauerhafter als die meisten anderen Erinnerungen. Denn was taten Sie am 30. August oder am 1. September 1997?
Literatur
R. Brown & J. Kulik, »Flashbulb memories«, Cognition, 5 (1977), 73-99.
F.W. Colegrove, »Individual memories«, American Journal of Psychology, 10 (1899), 228-255.
M. Conway, Flashbulb memories, Hillsdale 1995.
U. Neisser, »Snapshots or benchmarks?«, U. Neisser (Hrsg.), Memory observed: remembering in natural contexts, San Francisco 1982, 43-48.
U. Neisser & N. Harsch, »Phantom flashbulbs: false recollections of hearing the news about Challenger«, E. Winograd & U. Neisser (Hrsg.), Affect and accuracy in recall: studies of »flashbulb memories«, Cambridge 1992, 9-31.
Warum erinnern wir uns vorwärts und nicht rückwärts?
Eines der Vergnügen der nichtautomatischen Literaturerschließung ist der Zufallsfund. Man blättert durch einen kompletten Jahrgang, läßt die Finger durch das Inhaltsverzeichnis gleiten, durchforstet Register oder schlägt einen Index auf, und in der Unbegrenztheit dieses archaischen Suchprozesses hält sich dann offensichtlich der ungesuchte Fund auf, manchmal wertvoller als das, was man eigentlich suchte. Vor einiger Zeit ließ ich auf der Suche nach einer Rezension den Jahrgang 1887 von Mind. an meinem Daumen entlangrascheln, als ich den Titel eines Artikel vorbeihuschen sah: »Why do we remember forwards and not back-wards?« Diese Frage verursachte eine Art von intellektuellem >double takec ich hatte die Bibliothek mit meiner Kopie der Rezension bereits wieder verlassen, als mir plötzlich bewußt wurde, wie raffiniert die Frage war, und ich lief zurück, um den Artikel nachträglich zu lesen.
Der Beitrag war noch keine vier Seiten lang. Verfaßt von Francis Herbert Bradley (1846-1924), einem Oxford-Philosophen der idealistischen Schule. Bradley brauchte nur ein paar Zeilen, um zu verdeutlichen, daß man auf einfache Fragen nicht immer eine einfache Antwort geben kann.
Die schlichte Antwort über die Richtung des Erinnern ist, daß unser Gedächtnis dabei der Richtung der Ereignisse folgt: erst geschah X, danach Y und wenn man die Ereignisse in seine Erinnerung zurückruft, liegt es auf der Hand, daß sie auch in dieser Reihenfolge wieder zum Vorschein kommen. Aber letzteres ist bei
näherer Betrachtung gar nicht so selbstverständlich, und das ver-anlaßte mich auch, in der Bibliothek meinen Beschluß rückgängig zu machen, denn warum sollte die Reihenfolge des Reproduzie-rens dieselbe sein wie die des Speicherns? Beim Reproduzieren kommt man schließlich sozusagen von der anderen Seite: im Dossier unseres Gedächtnisses liegt das Neuste obenauf, wie Kontoauszüge in einer Mappe, und wenn man zurückblättert, müßte man also erst Y begegnen und danach X. Also tatsächlich: warum erinnern wir uns vorwärts statt rückwärts?
Daß wir uns an Ereignisse vorwärts erinnern, kann man nicht leugnen. Ich stelle mir Maradonas zweites Tor gegen England vor, WM 1986, Mexiko. Maradona steht noch in der eigenen Hälfte, knapp außerhalb des Mittelkreises. Er wird angespielt, zwei englische Spieler laufen auf ihn zu, mit einem kurzen Drehen spielt er sich frei und rennt in Richtung des Strafraums. Während er den Ball mit kurzen Kicks seines linken Fußes vorwärtstreibt, passiert er zwei Verteidiger und läßt den Torhüter nach der verkehrten Seite tauchen. Er schießt mit links und - Tor! Ich kann mich an den Ablauf dieses Ereignisses nur vorwärts erinnern, es gelingt mir nicht, den Ball aus dem Tor auf Maradonas Fuß fliegen zu lassen und mich daran zu erinnern, wie er rückwärts rennend (aber nach vorn gebeugt!), verfolgt durch den gegen seinen Fuß prallenden Ball, Spielern ausweichend, die rückwärtsgewandt von ihm weggleiten, schließlich die Stelle erreicht, wo meine Erinnerung begann. Auf dem Videoapparat meines Gedächtnisses gibt es kein >reverse<. Ich kann, um in der Metapher zu bleiben, zwar zu einem früheren Augenblick im Wettkampf zurückspulen, zum Beispiel zum heimlichen Handspiel, mit dem er das erste Tor schoß, aber wenn ich mich an diesen früheren Augenblick erinnere, ist die Richtung wieder wie >play<, nämlich vorwärts. Das hatte ich mir vor Bradley nie klargemacht: man kann im Gedächtnis zwar hin und
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