Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
durchdringenden Klang.« Dank seiner extremen Fähigkeit zur Visualisierung waren manche Aufgaben im Null Komma nichts für ihn transparent. Jemand legte ihm einmal ein Rätsel vom Bücherwurm vor. Zwei Bücher, die jeweils 400 Seiten haben, stehen nebeneinander im Bücherregal. Ein Bücherwurm nagt sich von der ersten Seite des ersten Buchs zur letzten Seite des zweiten Buchs. Wie viele Seiten hat er durchnagt? Die meisten Leute antworten: 800. Aber Schereschewski sah vor sich, wie die beiden Bücher nebeneinander stehen, wie die erste Seite des linken Buchs nur durch zwei Umschläge von der letzten Seite des rechten Buchs getrennt ist und daß sich der Bücherwurm also nur durch zwei Umschläge nagen muß. Wo viele Leute selbst nach der Erklärung noch zwei Bücher in die Hand nehmen müssen, um diese Antwort zu überprüfen, richtete Schereschewski einfach sein inneres Auge auf die Bücher in seiner Vorstellung.
Aber diese graphische Präzision hatte eine Kehrseite. Schereschewski konnte nicht mit Begriffen umgehen, die nicht mit einer Vorstellung zu verbinden sind, wie etwa das Wort >nichts<. Für durchschnittliche Menschen ist so ein Begriff eine verbale Abstraktion, die ihren Platz in der Argumentation einnimmt. Schereschewskis Denken blieb immer kindlich konkret und visuell. Er hatte auch überhaupt kein Gefühl für Bildsprache oder Poesie. Das klingt seltsam bei jemanden, für den Worte konkrete Bilder und sinnliche Assoziationen aufrufen, aber bei näherer Überlegung ist das sehr verständlich. Metaphern sind nur durch ihren Verweis auf eine Bedeutung zu verstehen, Schereschewski sah in der Bildsprache ausschließlich das Bild. Wenn in einem Gedicht von Ti-chonow ein Bauer mit einer Weinpresse zugange ist und einen >Fluß von Wein< produziert, sieht Schereschewski in der Ferne einen roten Fluß strömen. Die Bedeutung der Bildsprache wurde durch das Bild verdrängt.
Auch wenn es um das Verstehen normaler Sprache geht, wird Schereschewski durch seine visuellen Assoziationen behindert. Wenn er jemandem zuhört, führen ihn die Klänge und lebendigen Bilder, die er unwillkürlich vor seinem geistigen Auge erscheinen sieht, weg von der Bedeutung, und am Ende bleibt ihm nur eine unverständliche Sammlung von Vorstellungen. Ein Fragment aus einem Gespräch mit Lurija: »Nehmen wir den Ausdruck: >seine Worte abwägen<. Kann man sie denn abwägen? Wenn ich das Wort >abwägen< höre, sehe ich eine große Waage, wie wir sie in Reschiza in unserem Laden hatten, da legt man in die eine Waagschale Brot, in die andere ein Gewicht, der Zeiger schlägt zur Seite aus, dann bleibt er in der Mitte stehen ... aber hier - >Worte abwägen< ? ...«
Das psychische Leben Schereschewskis grenzte an Pathologie. Sein Denken muß dem Bewußtseinszustand geähnelt haben, den man manchmal erfährt, wenn man einschläft: eine schnelle Bilderserie, assoziativ, die flüchtigen Impressionen eines chaotisch montierten Films. Auf Menschen, die ihn nicht kannten, machte er, wie seinerzeit auf Lurija, einen seltsamen, zerstreuten Eindruck, als ob er nicht ganz richtig im Kopf wäre. Ein perfektes Gedächtnis ist ein Handicap. Was der Parallele zwischen Schereschewski und Borges' Funes einen so beklemmenden Charakter gibt, ist, daß der echte Gedächtniskünstler und die fiktive Figur nicht nur ihr absolutes Gedächtnis gemein haben, sondern auch die dazugehörigen psychischen Defekte. Schereschewski beklagte sich bei Lurija einmal über sein schlechtes Gedächtnis für Gesichter: »Gesichter sind so unbeständig. Sie hängen von der Stimmung eines Menschen, vom Zeitpunkt seiner Begegnung ab, sie verändern sich fortwährend, die vielen verschiedenen Schattierungen im Ausdruck verwirren mich.«
Funes hatte dieselben Schwierigkeiten. Immer wenn er sein eigenes Gesicht - seine Gesichter? — im Spiegel sah, war er verwundert. Wo andere das Gleichbleibende sehen, sah er Veränderung: »Funes unterschied ständig dir ruhigen Fortschritte der Verwesung, der Karies, des Leids. Er bemerkte das Fortschreiten des Todes, der Feuchtigkeit.« Das Paradox im Leben dieser beiden Männer war, daß ihre absoluten Gedächtnisse gerade jegliches Gefühl für Kontinuität vertrieb.
Schereschewski und Funes machten beide einen seltsamen und abwesenden Eindruck, so sehr waren sie von ihren anspruchsvollen Gedächtnissen in Beschlag genommen. Ihnen fehlte die Fähigkeit zur logischen und abstrakten Ordnung. »Ich vermute allerdings, daß er zum Denken nicht sehr
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