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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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übersieht er es bei der Wiederholung seines Spaziergangs.
    Synästhesie
    Neben dem absoluten Gedächtnis gibt es noch eine zweite Abweichung im psychischen Funktionieren Schereschewskis: Er ist in extremem Maße synästhetisch. Bei Schereschewski verschwimmen die Eindrücke der verschiedenen Sinnesorgane. Bei Worten nimmt er Farbe und Geschmack wahr, manchmal sogar Schmerz. Schon in seiner frühsten Jugend hatte er bemerkt, daß die Klänge eines hebräischen Gebets farbige Bilder, Dampfschwaden und Spritzer aufriefen. Während der Tests sagte er zu Lurijas Kollegen Wygotski: »Was für eine gelbe mürbe Stimme Sie doch haben.« Nach einer Begegnung mit dem Regisseur Sergej M. Eisenstein erzählt Schereschewski Lurija, daß sich dessen Stimme anfiihlte, »als näherte sich mir langsam eine Flamme mit Adern«. Durch den Klang der Worte schieben sich Geschmack und Farbe vor die Bedeutung. Er kann sich nicht vorstellen, daß ein so melodiöses und elegantes Wort wie >svinya< zu einem Schwein gehört. In Restaurants wählt er die Gerichte aufgrund des Geschmacks der Worte aus. Als ihn eine Eisverkäuferin mit heiserer Stimme fragt, welchen Geschmack er möchte, >sieht< er einen Strom von Kohlen und schwarzer Schlacke aus ihrem Mund kommen, und ihm vergeht der Appetit.
    Auf den ersten Blick macht die Synästhesie Schereschewskis
    Gedächtnis noch mysteriöser. Wie können zwei Abweichungen, die jede für sich schon so selten sind, in Kombination bei dieser einen Person Vorkommen? Zufall? Lurija zeigt, daß die Synästhesie kein zusätzliches Rätsel ist, sondern Teil der Erklärung. Aus persönlicher Erfahrung wissen wir, daß der Kontext dessen, was wir behalten müssen, bei der Reproduktion behilflich sein kann. Diesen Mechanismus nutzen wir, wenn wir jemanden an etwas erinnern müssen: Du weißt schon, wir saßen da und da, und der und der war auch dabei. Die Umstände fungieren dann als Assoziationssignale. Schereschewski assoziierte die Elemente aus den endlosen Reihen, die er bei seinen Auftritten auswendig lernen mußte, nicht nur automatisch mit einer konkreten visuellen Vorstellung, sondern er legte die Elemente über den Klang auch noch einmal als Geschmacks- oder Farbwahrnehmung fest. Dank seiner synästhetischen Assoziationen verfügte er so über eine zusätzliche Sammlung von Assoziationssignalen. Daß er häufig Material reproduzieren konnte, das man ihm zehn oder 15 Jahre zuvor angeboten hatte, lag daran, daß er sich den >Geschmack< der Sammlung vor Augen zu holen wußte. Für das Experiment konzentrierte er sich ein paar Minuten, um das sinnliche Bild des ursprünglichen Tests wieder aufzurufen.
    Aber die synästhetischen Assoziationen hatten in Schereschewskis Gedächtnis noch eine zweite Funktion. Wenn durchschnittliche Testpersonen eine Liste mit Wörtern reproduzieren, die sie sich über visuelle Vorstellungen einzuprägen versucht haben, kommt es manchmal vor, daß nicht das angebotene Wort, sondern ein Synonym reproduziert wird. Angenommen, das Wort ist >Boot<, dann macht sich die Versuchsperson eine Vorstellung von einem Boot, führt sich diese Vorstellung später wieder vor Augen und denkt, ach ja, Schiff. Für Schereschewski war ein solcher Fehler ausgeschlossen. Das Wort Boot rief bei ihm nicht nur eine visuelle Vorstellung auf, sondern auch eine eigene synästhetische Assoziation, die nicht zu dem Wort Schiff paßte. Die Synästhesie fungierte als Kontrolle für die Reproduktion. In diesem wundersamen Gedächtnis galten vielleicht nicht die normalen psychologischen Gesetze, aber es herrschte auch keine Anarchie. Die Abweichungen bildeten zusammen eine konsistente Struktur mit eigenen Gesetzmäßigkeiten.
    Die Pathologie der Perfektion
    Was bedeutet es, mit einem nahezu absoluten Gedächtnis durchs Leben zu gehen? Aus Gesprächen und Briefen merkt Lurija, daß der visuell-synästhetische Einschlag Schereschewskis einige Dinge für ihn einfacher macht. So hat er ein fabelhaftes Orientierungsvermögen: jede Strecke, die er einmal gegangen ist, wird als mentaler Stadtplan in einem fortwährend wachsenden topographischen Archiv gespeichert. Lurija erinnert sich in seiner Autobiographie, daß sie eines Tages zusammen auf dem Weg zum Labor des Physiologen Orbeli waren und daß er Schereschewski fragte, ob dieser den Weg noch wisse. Schereschewski: »Wo denken Sie hin? Kann man das denn vergessen? Dieser Zaun da - er ist ja so salzig im Geschmack und so rauh, und er hat einen so scharfen und

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