Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
und Adressen des heutigen und früheren Personals der Einrichtung aus dem Kopf. Down bemerkte seinerzeit schon, daß das Gedächtnis von Savants einen speziellen Charakter hat: er nannte es >klebrig< für konkrete, einfache Dinge. Mit Abstraktem können Savants nichts anfangen. Sie behalten leichter einen gesamten Fahrplan als die Anweisungen, wie man eine Verbindung sucht. Eine zweite Kategorie ist die der Rechner. Meistens betrifft das Kalenderrechner, Savants, die innerhalb von ein paar Sekunden sagen können, auf welchen Tag ein bestimmtes Datum fällt. Eine dritte Kategorie von Savants hat ein künstlerisches Talent. In der Regel können sie Musik aus dem Kopf nachspielen. Sie können keine Noten lesen und haben alle ein absolutes Gehör. Seltener sind die Savants, die zeichnen. Die autistische Nadja zeichnete schon seit ihrem vierten Lebensjahr Tiere, am liebsten Pferde, und hatte ein Talent für die Wiedergabe von Bewegungen, das selbst für Erwachsene außergewöhnlich wäre. Stephen Wiltshire, ebenfalls autistisch, zeichnete Gebäude und Straßen mit einer beeindruckenden Beherrschung der Perspektive.
Dem amerikanischen Psychiater Treffert zufolge, lange Zeit wie Down medizinischer Direktor einer psychiatrischen Einrichtung, wurden im vergangenen Jahrhundert in der medizinischen und psychologischen Literatur etwa hundert Savants beschrieben. Männer sind mit sechs zu eins überproportional stark vertreten. Viele Savants sind autistisch oder zeigen Symptome, die üblicherweise mit Autismus assoziiert werden: Echolalie (>plappern wie ein Papagei<), Zurückweisung von sozialem Kontakt, Bevorzugung monotoner Aktivitäten und heftige Ausbrüche bei Veränderungen in der Umgebung. Unter Kindern mit der Diagnose Autismus haben etwa zehn Prozent savantartige Fähigkeiten. Fast alle Kalenderrechner sind autistisch. Wer sich in die Fallbeschreibungen und die enorme Vielfalt ihrer Talente und Leistungen vertieft, kommt fast von selbst zu dem Schluß, daß die traditionelle Einteilung in Gedächtniswunder, Rechenwunder und künstlerische Savants einen etwas willkürlichen Eindruck macht. Diese Einteilung könnte sich in der Zukunft als genau so eine >silly list< erweisen wie die Epileptiker, Alkoholiker und Schwachsinnigen, die in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts gemeinsam die Kategorie der >Degenerierten< bildeten. Es ist eine Dreiteilung, die sich dem Ausdruck des Syndroms, der spezifischen Fähigkeit des Savants, anschließt, statt den psychologischen Prozessen, die ihn in die Lage versetzen, gerade diese Fertigkeiten zu entwickeln. In zukünftiger Forschung könnte sich heraussteilen, daß das >klebrige< Gedächtnis, von dem Down sprach, erst recht unter der Oberfläche auch die Leistungen von Kalenderrechnern, Pianisten und Zeichnern erklärt. Es könnte auch sein, daß alle Savanttalente einen geheimen räumlichen Aspekt haben. Die Hypothesen und Theorien, die zur Zeit in der Literatur zirkulieren, haben in vielen Fällen einen überzeugenden erklärenden Wert für die spezifischen Savants, für die sie entwickelt wurden, während sie andere Savanttypen gerade um so rätselhafter machen. Um einen Eindruck von der Vielfalt savantartiger Fertigkeiten sowie der Tiefe und Breite zu bekommen, die eine Erklärung haben müßte, ist es nun an der Zeit, die Bekanntschaft einiger Savants zu machen.
Rechenwunder und Kalenderrechner
Carl Gauß, der größte Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts, war in seiner Jugend ein Rechenwunder, ebenso wie Leonhard Euler im Jahrhundert davor und Alexander Aitken im Jahrhundert danach. Die frühen Leistungen dieser Mathematiker paßten in das Schema der Begabtheit, die im späteren Lebensalter zur Entwicklung kam. Das Versprechen ihrer Jugend wurde durch das eingelöst, was sie schließlich wurden: Verwalter eines Talents, das nur einem unter vielen Millionen von Menschen zuteil wird. Die Begabung Eulers, Gauß' oder Aitkens hat ihren Platz im äußersten rechten Punkt auf der Normalverteilung, dort, wo sich die Kurve der Grundlinie unendlich dicht genähert hat.
Das Umgekehrte gilt nicht. Außergewöhnliche Rechenleistungen sind nicht immer ein Vorzeichen von Genialität. Manchmal sogar im Gegenteil: viele jugendliche Rechenwunder nehmen bis auf diese eine Gabe einen Platz am äußersten linken Rand der Normalverteilung zwischen den Schwachbegabten ein. Der Kontrast, jenes eine erleuchtete Zimmer in einem dunklen Gebäude, hat Generationen von Forschern fasziniert.
Jedediah
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