Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Danach >liest< er die Tabelle von etwas ab, das er als >inneres Bild« bezeichnet. Es macht dabei zeitlich kaum einen Unterschied, ob er die Spalten von oben nach unten, umgekehrt oder diagonal reproduziert. Selbst einige Monate oder Jahre später macht die Reproduktion einer Tabelle keine nennenswerten Schwierigkeiten. Der einzige Unterschied ist, daß Schereschewski dann mehr Zeit braucht, um sich die Umstände des Tests wieder vor Augen zu holen: das Zimmer, Lurijas Stimme, das Bild von sich selbst, wie er auf die Tafel starrt.
ln den Anfangsjahren der Studie hat Schereschewskis Erinnern einen spontanen Charakter. Die Tests verdeutlichen, daß sein Gedächtnis einen visuellen Einschlag hat. Jedes Wort ruft bei ihm automatisch eine Vorstellung auf, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt hat. Aus einem Gespräch von 1936: »Wenn ich das Wort >grün< höre, taucht ein grüner Topf mit Blumen auf; bei >rot< erscheint ein Mann im roten Hemd, der zu ihnen hingeht; ich höre >blau< - und jemand schwenkt aus einem Fenster heraus
ein blaues Fähnchen. Selbst Zahlen erinnern mich an Bilder ... Da ist die 1 - das ist ein stolzer, schlanker Mann; die 2 ist eine fröhli
Scheinformel, die Lurija dem Gedächtniswunder Schereschewski vorlegte
che Frau; die 3 ist ein mürrischer Mann, ich weiß nicht, warum ... die 6 ist ein Mann, dessen Bein geschwollen ist; die 7 ist ein Mann mit Schnurrbart; die 8 ist eine sehr beleibte Frau.« Die Zahl 87 ist für Schereschewski eine dicke Frau mit einem Mann, der seinen Schnurrbart zwirbelt. Ein Fragment aus einem introspektiven Bericht vermittelt einen Eindruck davon, wie sich Schereschewski eine wissenschaftliche Formel - eine Scheinformel in diesem Fall -
einprägt: »Neiman (N) geht hinaus und zeigt mit dem Stock (der Punkt). Er schaut auf einen hohen Baum, der an eine Wurzel erinnert (Wurzelzeichen), und denkt: Es ist kein Wunder, daß der Baum verdorrt ist und die Wurzeln bloßgelegt sind. Er hat ja schon damals dagestanden, als ich diese zwei Häuser gebaut habe (d 2 , von >dom< = Haus), und wieder zeigt er mit dem Stock (Punkt). Er sagt: Die Häuser sind alt, ich werde sie >auskreuzen< müssen (X). Der Verkauf wird viel mehr Geld bringen. 85.000 hat er in die Häuser investiert (85). Dann sehe ich, daß sich das Dach löst, und unten steht ein Mann und spielt auf einem Termenvox (Ziehharmonika) (vx).«
Bilder wie diese tauchen ohne Anstrengung in seinem Geist auf und reihen sich zu einer fortlaufenden Geschichte aneinander. Lurija berichtet, daß Schereschewski die Formel 1949, 15 Jahre später, ohne jegliche Vorbereitung fehlerfrei wiederholen konnte.
Ein paar Jahre nach seiner Begegnung mit Lurija gibt Schereschewski seine Stelle als Journalist auf und beschließt, aus seiner Gabe einen Beruf zu machen: er wird Gedächtniskünstler. Zwischen den Tourneen hat Lurija Gelegenheit, die Veränderungen, die sich in Schereschewskis Gedächtnis zeigen, aus der Nähe zu beobachten. Allmählich macht das spontane Erinnern einem professionellen Kunstgriff Platz: der >loci<-Methode. Diese Technik war schon den Griechen bekannt, die lange Reden auswendig vortragen mußten. Der Sprecher nahm in diesem Fall in Gedanken ein Haus oder eine Straße und legte während eines mentalen Spaziergangs seine Gegenstände in visuell-symbolischer Form entlang des Wegs ab. Während seiner Rede wiederholte er den Spaziergang und fand so zu passender Zeit - am ersten Ort, am zweiten Ort ... - alle Gegenstände wieder. Schereschewski bediente sich einer Moskauer Variante: der Spaziergang begann in der Regel in der Gorkistraße, vom Majakowskiplatz aus. Die Gegenstände fanden sich in Torbögen oder hellerleuchteten Schaufenstern, auf Fensterbänken und Mäuerchen, in Gärten und Treppenhäusern. Oft endete der Spaziergang, reichlich ungeographisch, in dem Städtchen Torschok, wo er als Kind gewohnt hatte.
Es ist bemerkenswert, aber innerhalb der Struktur dieses Gedächtnisses durchaus verständlich, daß die seltenen Fehler Sche-reschewskis eher Wahrnehmungs- als Erinnerungsfehler sind. Wenn er eine auswendig gelernte Tabelle >liest<, macht er Fehler, die jemand machen könnte, wenn er die Tabelle vom Papier ablesen würde, wie etwa die Verwechslung einer unordentlich geschriebenen 3 mit einer 8. Dasselbe zeigt sich bei der >loci<-Me-thode: wenn Schereschewski das >Bild< an einer dunklen Stelle oder gegen einen ungeeigneten Hintergrund ablegt, wie ein Ei gegen eine weiße Wand,
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