Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
vergessen hätte. Jeder Schlaflose lebt zeitweilig mit dem Fluch eines absoluten Gedächtnisses. In den langen, trägen Stunden der Nacht verändert man sich zu einem Ireneo Funes, einem Solomon Schereschewski, einem Gedächtniskünstler, dem plötzlich klar wird, was es bedeutet, an der Pathologie einer Perfektion zu leiden.
Literatur
J.L. Borges, »Das unerbittliche Gedächtnis«, zitiert aus: Ders., Lotterie in Babylon. Die schönsten Erzählungen, ausgewählt von Fritz Arnold, Berlin 1997.
G.H. Bell-Villada, Borges and his fiction. A guide to his mind and art, Chapel Hill 1981.
A. Lachmann, »Gedächtnis und Weltverlust - Borges' memorioso - mit Anspielungen auf Lurija's Mnemonisten«, A. Haverkamp und R. Lachmann (Hrsg.) unter Mitwirkung von R. Herzog, Memoria - Vergessen und Erinnern, München 1993, 492-519.
A.R. Lurija, The making of a mind. A personal account of Soviet psychology, Cambridge (Mass.) 1979.
A.R. Lurija, The mind of a mnemonist (1968). Zitiert aus: »Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses«, Der Mann, dessen Welt in Scherben ging - ein Fall von Gedächtnisverlust, Reinbek bei Hamburg 1991,147-249.
Der Profit eines Defekts: das Savantsyndrom
1887 hielt der englische Psychiater Langdon Down vor der Medical Society von London eine Vorlesungsreihe. Er erzählte seinen Kollegen, welchen Fällen und Krankheitsbildern er als medizinischer Direktor des Earlswood Asylum in den vergangenen dreißig Jahren so begegnet war. Diese Lesungen sind in der Geschichte der Psychiatrie berühmt geworden. Das haben sie vor allem Downs Beschreibung einer abweichenden geistigen Entwicklung zu verdanken, die er selbst als >Mongolismus< bezeichnete, die aber heutzutage seinen Namen trägt: das Down-Syndrom. Viel weniger bekannt ist, daß er in denselben Vorlesungen noch einen zweiten klassischen psychiatrischen Begriff einführte: den des >idiot savant<. >Idiot savants< waren nach Down »Kinder, die, obwohl sie nur schwachbegabt sind, spezielle Talente zeigen, die in sehr starkem Maße entwickelt werden können«.
Down hatte in seiner Klinik mehrere dieser Kinder unter Beobachtung. Ein Schwachbegabter Junge konnte lange Textstücke, die er einmal gelesen hatte, wortwörtlich reproduzieren. Vom wirklichen Verständnis dessen, was er da behielt, konnte keine Rede sein. Während er Gibbons Decline and fall of the Roman Empire las, hatte er auf der dritten Seite versehentlich eine Zeile übersprungen und diesen Fehler ein paar Zeilen später behoben. Als er den Text auswendig aufsagte, wiederholte er exakt diesen Fehler: Zeile überspringen, weiterlesen und später nachträglich diese eine Zeile lesen, als ob es so im Text stünde. Ein anderer Junge kannte ein ganzes Psalmbuch auswendig. Wieder ein anderer konnte
innerhalb weniger Augenblicke zwei dreistellige Zahlen miteinander multiplizieren. Manche seiner Patienten hatten ein absonderlich gut entwickeltes musikalisches Gedächtnis. Einer von ihnen erinnerte sich nach einem Opernbesuch perfekt an alle Arien. Und dann gab es noch einen Jungen, der ohne irgendeine Uhr genau sagen konnte, wie spät es war. Wenn er aufgeregt war, erzählte Down, klappte es nicht so gut, und dann mußte er »wie eine alte Uhr geschüttelt werden, wonach er die genaue Zeit angeben konnte«. Diese Gabe der Chronometrie schien genauso wenig wie andere Talente vererbt gewesen zu sein: Down hatte bei keinem einzigen >idiot savant< eine identische Begabung bei den Eltern vorgefunden. Eine andere bemerkenswerte Beobachtung war, daß Down in seiner langen Laufbahn keinen einzigen weiblichen >idiot savant< getroffen hatte.
Dutzende von Fallstudien über >idiot savants< die seit Down erschienen sind, haben seine Beobachtungen in großen Zügen gestützt. In der Zwischenzeit ist man aber doch von dem Begriff selbst abgekommen: ein >idiot savant< ist kein Idiot, mit seinem IQ zwischen 50 und 70 noch nicht einmal im technischen Sinn; ein >savant< oder Gelehrter ist er aber genauso wenig. Sein Talent liegt hauptsächlich auf der Ebene von Reproduktion und Imitation. Heutzutage spricht man von Menschen, die am Savantsyndrom leiden, oder kurz von Savants.
Die Beispiele von Savants, die Down nannte, fallen genau in die drei Kategorien, die man auch heute noch unterscheidet. In erster Linie gibt es Gedächtniswunder. Manche Savants kennen den gesamten Busfahrplan einer großen Stadt auswendig. Andere Savants haben ein extrem gutes Gedächtnis für historische Daten oder wissen alle Geburtstage
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