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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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begabt war«, berichtet der Erzähler über Funes, »Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.« Es störte ihn, daß ein Hund, den er von der Seite sah, denselben Namen führen sollte wie derselbe Hund eine Minute später von vorn betrachtet. Mit dieser Unendlichkeit an Perspektiven war das Wort >Hund<, selbst für diesen einen Hund, schon viel zu allgemein, von all seinen Artgenossen mal ganz abgesehen. Auch für Schereschewski war das Leben eine Aneinanderreihung einzelner Bilder, er war nicht in der Lage, auch nur die einfachste logische Ordnung in Ziffernreihen zu entdecken oder Wörter in Kategorien zu sortieren. Schereschewski gelang es nicht, aus einer Wörterliste nur die Vogelnamen zu reproduzieren, dafür mußte er sich die gesamte Liste noch einmal vorsagen; er war, so wie man über Funes sagte, »zu allgemeinen platonischen Ideen so gut wie nicht imstande«. Für beide Gedächtniswunder, hat Renate Lach-mann in einem Essay über Borges angemerkt, galt ein Spruch von
    Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches-. »Das gute Gedächtnis. Mancher wird deshalb kein Denker, weil sein Gedächtnis zu gut ist.«
    Lurija betrachtete es als seinen wichtigsten Verdienst, daß er untersucht hatte, welchen Einfluß diese eine extrem gut entwickelte Funktion auf Schereschewskis Persönlichkeit und Handeln hatte. In diesem menschlichen Aspekt treffen sich der experimentelle Bericht Lurijas und Borges' Erzählung. Egal, ob die Erfahrung eines absoluten Gedächtnisses nun durch das Prisma der literarischen Phantasie oder durch das des wissenschaftlichen Experiments geführt wird - das Spektrum an Konsequenzen für das Handeln und Erleben stimmt überein. Für beide, Schriftsteller und Neuropsychologe, steht fest, daß ein absolutes Gedächtnis Verheerendes anrichtet, es macht seinen Besitzer zum Invaliden. Lurija beschrieb Schereschewski als einen etwas kindlichen, wenig effizienten Mann, der sich in seinen Assoziationen festfuhr, bevor er antworten oder handeln konnte. Für Funes galt, stärker noch, dasselbe Handicap. Bell-Villada verwies auf das Paradox, daß Funes' Wahrnehmung ungewöhnlich reich und variiert war, während er zu einem armseligen und monotonen Dasein verdammt war, im Dunkeln, die Augen geschlossen, seinen Geist vor dem Ansturm sinnlicher Eindrücke beschützend. Tatsächlich geht das Paradox noch tiefer. Die unfehlbare Registrierung des Baums oder des Gesichts von gestern macht, daß der Baum und das Gesicht von heute vollkommen neu sind. Für Funes und Schereschewski ist alles jeden Moment neu. Kurzum, es geht ihnen genauso wie jemandem ohne Gedächtnis.
    In einem Interview ist Borges einmal herausgerutscht, daß die Erzählung über Funes eine Metapher für Schlaflosigkeit ist, ein Übel, an dem er selbst litt. Er sprach über die »grausame Klarheit«, die einen überkommen kann, wenn man hellwach im Dunkeln liegt. In seinem Gedicht »Insomnia«, das 1936 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, sechs Jahre vor der Geschichte über Funes, schreibt er über die Unmöglichkeit, seine Gedanken abzulenken von seinem eigenen Körper, dem Blutkreislauf, der allmählich voranschreitenden Zahnfäule, allen Orten, wo er gewesen ist, dem
    Haus, der Stadt, den schlammigen Wegen. Vergeblich wartet er auf »die Desintegration und Symbole, die dem Schlaf vorangehen«. Mit geschlossenen Augen liegt er auf dem Bett und wartet. In der Morgendämmerung, unter einem schieferfarbenen Himmel, ist er immer noch wach. Schlaf ist eine vorübergehende Vergessenheit, und wer ohne ihn auskommen muß, ist seinen Erinnerungen ausgeliefert.
    Die Erfahrung ist erkennbar. Tagsüber und unter normalen Umständen ist das Gedächtnis ein freundlicher Diener, ein Intimus, der daran gewöhnt ist, ins Vertrauen genommen zu werden, und sich große Mühe gibt, es einem recht zu machen. Aber nachts, wenn der Schlaf ausbleibt, kommt seine verräterische Natur ans Licht. Während man - wie Funes - hilflos auf seinem Bett liegt und wartet, verändert er sich in einen Tyrannen, der einen mit seinen düsteren Geschichten wachhält. Es gibt kein Entkommen. Man ist allein mit seinem Gedächtnis, und wie gelähmt betrachtet man, was es einem alles vor Augen zaubert. Bilder, Bilder, Bilder -ganze Tage schweben einem wieder in aller Deutlichkeit vor, eine unerbittliche, filmische Projektion all dessen, was man lieber

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