Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Gehilfe bei der Gaskammer, Nicolaj Schalajew, wurde 1952 vor Gericht gestellt. Schalajew erklärte 1950, er habe Marchenko im Frühjahr 1945 zum letzten Mal getroffen, als er ihn aus einem Bordell in Fiume hatte kommen sehen. Marchenko erzählte Nicolai, er habe sich jugoslawischen Partisanen angeschlossen und habe nun Urlaub. Er habe eine Freundin getroffen, mit der er ein neues Leben beginnen wolle. Von diesem Moment an fehlt von ihm jede Spur. In den sechziger Jahren sind in der Sowjetunion viele Prozesse gegen ukrainische Wachmänner geführt worden, die nahezu ohne Ausnahme mit Todesurteilen endeten. Marchenko war nicht dabei. Die Sowjetbehörden haben noch bis 1962 nach Marchenko gesucht. Seine Töchter in der Sowjetunion hörten erst
zu Beginn der neunziger Jahre von der Kriegsvergangenheit ihres verschwundenen Vaters.
Iivan/John Demjanjuk (1920) wurde am 22. September 1993 ausgewiesen und in ein Flugzeug der El Al nach New York gesetzt. In den Vereinigten Staaten waren die ursprünglichen Gründe für seine Ausweisung widerrufen worden. Er lebt nun zurückgezogen an seinem alten Wohnort in Cleveland, Ohio.
Literatur
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B. Bettelheim, The informed heart, Glencoe 1960. Zitiert aus: Aufstand gegen die Masse: die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, München 1965.
E.A. Cohen, De afgrond. Een egodocument, Amsterdam/Brüssel 1971.
R. Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt a. M.,
1992.
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D. Patterson, Sun turned to darkness. Memory and recovery in the Holocaust me-moir, Syrakus 1998.
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Y. Sheftel, Defending »Ivan the Terrible«. The conspiracy to convict John Demjanjuk, Washington 1996.
J.-F. Steiner, Treblinka, Paris 1966.
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Y. Wiernik, A year in Treblinka, New York 1945.
45 Jahre verheiratet: Richard und Anna Wagner
Unser Gedächtnis kommt mit dem Alltäglichen nicht gut zurecht. Es kann wenig von dem rekonstruieren, was sich einmal an Unauffälligem um uns herum befand, wie Stimmen klangen, Dinge sich anfühlten, Zimmer rochen, Gerichte schmeckten. Oder: wie die Lieben aussahen. Die Eltern früher, die Kinder, als sie jünger waren, die Frau, der Mann, Freunde - indem sie bei einem blieben und sich fast unmerklich langsam veränderten, ist ihr früheres Aussehen aus dem Gedächtnis gelöscht. Selbst die Geschichte des eigenen Äußeren behält man nicht: das Gesicht, das einen heute aus dem Spiegel anschaut, läßt das von gestern bereits verschwimmen, ganz zu schweigen von dem Gesicht von vor einem Monat oder einem Jahr.
Wenn das Äußere ein Buch wäre und unser Gedächtnis bibliophil, würde es jede neue Ausgabe neben die sorgfältig bewahrten früheren Ausgaben stellen. Wir könnten nach Belieben in eine alte Auflage schauen und sie mit den späteren vergleichen. Was ist darin verschwunden oder hinzugefügt worden, was wurde gestrichen, verändert, korrigiert? In Wirklichkeit ist unser Gedächtnis ein Instrument, das für evolutionär nützliche Dinge entworfen wurde, und das Sammeln alter Ausgaben fällt nicht darunter. Wenn wir unseren Kindern doch nicht mehr so begegnen können, wie sie vor zehn oder zwanzig Jahren aussahen, hat es keinen Sinn, ein visuelles Register ihres früheren Äußeren zu führen. Weg damit.
Wir müssen unser Gedächtnis noch aus einem weiteren Grund entschuldigen. Es behält besser, was sich verändert, als das, was
gleichbleibt. Die Menschen, die wir jeden Tag um uns herumhaben, verändern sich genauso schnell oder langsam wie andere, aber durch den täglichen Umgang spielt sich ihre Veränderung auf einer Skala ab, die wie Stillstand wirkt. Es ist nicht gerecht, unserem Gedächtnis einen Vorwurf daraus zu machen, alte Ausgaben
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