Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
amerikanische Staatsbürgerschaft. Bei der Berufung stellte man auf Grundlage von Dokumenten des Roten Kreuzes unumstößlich ein wasserdichtes Alibi fest: Walus war in diesem Zeitraum 15 Jahre alt gewesen und hatte auf einem bayrischen Bauernhof gearbeitet. Auf Fotos aus dieser Zeit ist er mit Bauern abgebildet. Wallace wurde freigesprochen und erhielt die Staatsbürgerschaft zurück.
Wer sich nun wieder Wagenaars lange Liste mit den Regeln und Vorschriften vor sein geistiges Auge holt, fragt sich unwillkürlich, wie sich diese zum Erinnern und Wiedererkennen unter den Bedingungen, unter denen die Gefangenen von Treblinka gelebt haben, verhält. Verlangen die extremen Umstände keine Anpassungen? Kann jemand, der lange in Lebensgefahr geschwebt hat -außerdem noch vor sehr langer Zeit -, demselben Verfahren unterworfen werden, das für die Identifizierung von Langfingern und Taschendieben geeignet ist? Solche Fragen tauchen wie von selbst auf, genauso sicher ist, daß es die verkehrten Fragen sind.
So viele Jahre später ist es nicht mehr der Verdächtige selbst, der von den Augenzeugen identifiziert werden kann. Er kann sich nicht mehr als der Mann, der er vor vierzig, fünfzig Jahren war, in eine Reihe stellen. An diese Stelle sind andere Dinge getreten. Zwischen den Kriegsverbrecher von damals und den Verdächtigen von heute hat sich eine neue Lage geschoben, die überwiegend aus Papier besteht: Personalausweise, Auszüge, Fotos, Notizen in einem Register, Namenszeichen in einer Verwaltungsakte. All diese Dokumente landen als Akte Nummer soundsoviel in einem Dossier, dessen Umfang in Prozessen wie dem Demjanjuks schließlich in laufenden Metern ausgedrückt wird. Diese neue Papierschicht verbindet und trennt zugleich. Die Dokumente sollen helfen, den zeitlichen Abstand zu überbrücken, sie müssen beweisen, daß der Mann, der jetzt vor Gericht steht, derselbe ist wie der Mann, der derzeit Kriegsverbrechen begangen hat. Aber dieselben Dokumente verursachen auch eine Eklipse. Die Erinnerungen von Augenzeugen an den Mann von damals sind nur noch von Bedeutung - juristisch von Bedeutung -, soweit sie über Dokumente mit dem Verdächtigen in Zusammenhang zu bringen sind. Alles, was sie in dieser Zeit mit ihm durchgemacht und erlebt haben, alles, was sie bei ihm gesehen, gehört, gefürchtet haben, verschmälert sich zu Antworten auf Fragen, die aus dieser papierenen Lage stammen: Ist dies sein Foto, ist dies seine Handschrift, trug er diese Uniform?.
Die Fragen aus dieser Papierschicht und die Art und Weise, wie sie gestellt werden, haben eine eigene Logik. Die Regeln und Vorschriften für die Identifizierung, egal, wie formalistisch sie auch sein mögen, sind darauf ausgerichtet, Zweifel aus dem Weg zu räumen. Jeder Verfahrensfehler, jede Unzulänglichkeit, jede Übertretung kann sowohl der Verteidigung als auch der Anklage schaden. Wenn Demjanjuk wirklich Iwan der Schreckliche war, haben die Fehler den Beweis dafür weniger stark gemacht, als er hätte sein können. Klare Anforderungen an die Identifizierung sind nicht nur als Schutz für den Verdächtigen gedacht, sie geben auch der Beweisführung Solidität und Überzeugungskraft. Umgekehrt kann ein untaugliches Identifizierungsverfahren dazu führen, daß ein Unschuldiger verurteilt wird. Das ist im Fall Demjanjuk nicht geschehen. Während des Berufungsverfahrens kam eine mindestens ebenso dramatische Konsequenz ans Licht.
Alibi: Sobibor
Das schwächste Glied in Demjanjuks Verteidigung war sein Alibi. Es änderte sich oft, und für keine neue - oder alte - Version war eine Bestätigung zu finden. Anfangs erklärte er, daß er Bauer in Sobibor gewesen sei. Später sagte er, er habe der amerikanischen Einwanderungsbehörde 1951 verschwiegen, daß er in der Roten Armee gedient hatte und anschließend in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war. Die Geschichte ging sogar noch weiter: in der letzten Kriegsphase habe er bei einer Heereseinheit der Ukrainer gedient und noch ein paar Monate später in einer antikommunistischen Division unter Befehl von General Wlasow. Er wollte um jeden Preis vermeiden, in die Sowjetunion ausgewiesen zu werden, wo Stalin mit Soldaten, die in fremden Kriegsdienst getreten waren, kurzen Prozeß machte. Daher: Bauer. Aber weshalb ausgerechnet in Sobiborl Als er das Formular seinerzeit ausfüllte, erklärte Demjanjuk, hatte er jemanden, der bei der Karte von Polen stand, gebeten, einfach einen Ort zu nennen, zufällig sei das Sobibor
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