Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
eigenen Prozeß, daß er gemeinsam mit Marchenko nach der Schließung des Lagers nach Triest versetzt worden war, was wiederum mit Aussagen übereinstimmte, die SS-Offiziere in den sechziger Jahren gemacht hatten. Alexandra Kirpa, eine ukrainische Frau, die in Treblinka als Zwangsarbeiterin gearbeitet hatte, erklärte schon im Jahre 1951 gegenüber den Sowjetbehörden, daß sie und Marchenko im Lager »als Mann und Frau« gelebt hatten und daß er ihr dort auch genau erklärt hatte, welche Tätigkeiten er bei den Gaskammern verrichtete.
Die an so vielen Orten aufgetauchten und einander bestätigenden Dokumente brachten endlich auch Ordnung in das Chaos von Aussagen, Erklärungen und Personalausweisen. Es hatte tatsächlich einen Iwan den Schrecklichen gegeben (woran auch niemand gezweifelt hatte), nur hieß der nicht Iwan Demjanjuk, sondern Iwan Marchenko. Nun war auch klar, weshalb Demjanjuk kein glaubwürdiges Alibi hatte. Jeder Zweifel, daß er als Freiwilliger in deutschen Diensten aktiv an der Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft teilgenommen hatte, war ausgeräumt. Aber die Sicherheit, daß er in Sobibor Kriegsverbrechen begangen hatte, forderte einen hohen Preis. Derselbe Beweis entlastete ihn von der Anklage, sie in Treblinka begangen zu haben.
Sieben Jahre nach Beginn des Prozesses in Jerusalem und fünf Jahre nach dem Todesurteil standen die Richter nun vor einem unmöglichen Dilemma. Das Todesurteil konnte nicht bestätigt werden: Demjanjuk war nicht schuldig im Sinne der Anklage. Aber er war auch nicht unschuldig: in Sobibor hatte er Kriegsverbrechen begangen, für die er zweifellos die Todesstrafe bekommen hätte, wenn die Anklage von Anfang an so gelautet hätte. Nach langen Beratungen kamen die drei Richter zu dem einstimmigen
Urteil, daß er von der ursprünglichen Anklage freigesprochen werden mußte. Demjanjuk war wieder ein freier Mann.
Haben die Zeugen, die Demjanjuk als Iwan den Schrecklichen identifizierten, einen Fehler gemacht? Keinen Fehler; sie haben sich geirrt. Vielleicht nicht alle, vielleicht sogar nur einer. Der wirkliche Fehler ist, daß das Identifizierungsverfahren so angelegt war, daß sich isolierte Irrtümer mit fatalen Folgen für die Beweisführung fortpflanzen und vervielfältigen konnten. Der beste Dienst, den man den Zeugen hätte erweisen können, wäre ein Verfahren gewesen, das mit äußerster Präzision, Sorgfalt, Strenge, Geheimhaltung und unter Beachtung all dieser anderen Regeln angelegt und durchgeführt worden wäre. Auf keinen Fall hätten gerade diese Zeugen einem Identifizierungsverfahren unterworfen werden dürfen, das so wenig mit einer wirklichen Identifizierung zu tun hatte, wie der >Bahnhof< von Treblinka mit einem echten Bahnhof.
Postskriptum
Franz Stangl (1908) war vor Treblinka Lagerkommandant von Sobibor gewesen. Er war das Hirn hinter den Reorganisationen, die aus Treblinka eine effiziente Vernichtungsmaschine machten. Nach dem Krieg wurde Stangl verhaftet, aber 1948 floh er aus seinem österreichischen Gefängnis. Mit Hilfe des Vatikans entkam er nach Syrien. Später emigrierte er nach Brasilien, wo er als Monteur in einer Volkswagenfabrik in Säo Paulo Arbeit fand. Dort spürte Simon Wiesenthal ihn auf, und es folgte seine Auslieferung an die Bundesrepublik. Am 22. Dezember 1970 wurde er wegen Mordes an 400.000 Juden in Treblinka zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Frühjahr 1971 führte die englische Journalistin Gitta Sereny eine Reihe von Interviews mit ihm durch. Er erzählte ihr, noch immer stolz zu sein, daß er »einmal der jüngste Meisterweber von Österreich« gewesen war; diese Jahre seien wirklich »seine glücklichste Zeit« gewesen. Einen Tag nach dem letzten Gespräch mit Sereny starb Stangl an einem Herzanfall.
Kurt Franz (1914) nahm nach dem Krieg seinen alten Beruf als Koch wieder auf und ließ sich unter seinem eigenen Namen in Düsseldorf nieder. Bei seiner Verhaftung 1959 wurde ein Fotoalbum beschlagnahmt, in dem unter der Überschrift >Schöne Zei-ten< Fotos aus Treblinka eingeklebt worden waren. 1965 wurde Franz am Tod von »mindestens 300.000 Personen« schuldig erklärt, sowie an noch einmal 35 Morden und einem versuchten Mord. Seine Strafe wurde sorgfältig bemessen: fiinfunddreißig-mal lebenslang plus acht Jahre. Die Nachricht von seiner Freilassung aus Gesundheitsgründen fiel fast mit dem Freispruch Dem-janjuks zusammen. Franz starb 1998.
Iwan Marchenko (1911) war der richtige Iwan der Schreckliche. Sein
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