Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Petroleum und Kohlen, gelang es den Wagners noch, mit Torte, Getränken und Wurst eine reich gedeckte Weihnachtstafel zu gestalten. Mit dem etwas sonderbaren Gefühl für Humor, das auch auf anderen Fotos ab und zu auftaucht, haben sie in der Nähe des Eierkörbchens und der Wurstschale eine Karte mit dem Schriftzug >Hungersnot< aufgehängt.
Zwei Jahre später sind die Entbehrungen des Kriegs auch in das Wohnzimmer der Wagners eingezogen. Der Grund für die Wintermäntel steht darunter: Kohlenmangel. Die Karte mit den deutschen Truppenbewegungen ist verschwunden. Im Baum brennen keine Kerzen. Richard trägt die Pantoffel, die im Jahr zuvor zwischen den Weihnachtsgeschenken standen. In seinen Haaren sind die ersten grauen Streifen erschienen. Die Weihnachtsgeschenke werden von einer >Kochkiste< beherrscht, in der man mit einem Minimum an Brennstoff Mahlzeiten zubereiten konnte.
1927, ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Weltkriegen, geht es den Wagners sichtlich gut. Beide sind nun in den Fünfzigern, Richard beleibt und mit Zigarre, aber auch mit Brille und grauem Haar, Anna hinter einem vollen Tisch mit eleganten Schuhen, Wein, Obst und einem gravierten Kristallglas. Im Baum prangen zum ersten Mal elektrische Kerzen. Aber das Wichtigste steht ganz vorn: ein elektrischer Staubsauger der Marke Progresse. Es war nicht das erste und auch nicht das letzte elektrische Gerät, das in Annas Haushalt auftauchte, im Jahr davor hatte sie bereits ein Bügeleisen bekommen, später noch einen Massageapparat und einen Fön, der gemäß Anleitung mit einigen Zubehörteilen Wasserwellen herstellen, aber auch als Bettwärmer dienen konnte.
Auf den Fotos von 1935 und 1937 sind wieder Gerätschaften zu sehen: 1935 ein elektrischer Heizapparat, 1937 ein Radio, Typ Volksempfänger. Aber auffallender ist die schnelle Alterung Annas: innerhalb von zwei Jahren verändert sie sich von einer kek-ken Dame in eine Frau, die man älter schätzt als ihre 63 Jahre.
Grau, sichtlich abgemagert und besorgt beobachtet von ihrem Mann, wie es scheint, sitzt sie hinter einem aufgeklappten Näh-kasten.
In den Jahren danach werden die Stilleben auf dem Tisch allmählich schlichter. 1940 sitzen die Wagners wieder in ihren Wintermänteln am Weihnachtsbaum.
Das letzte Foto, auf dem sie beide zu sehen sind, stammt aus dem Jahre 1942. Auf dem Tisch steht eine Flasche, deren Boden gerade noch bedeckt ist, zu essen war nicht mehr viel da. Für Richard gibt es noch ein paar Zigarren.
Die elektrischen Kerzen für den Weihnachtsbaum trafen sich gut:
Kerzen waren so knapp, daß die Frauen mit Wachsresten und Aspirinröhren selbst Kerzen zu
ziehen versuchten. Am 24. Juni 1945 machte Richard noch ein letztes Foto von der damals 71jährigen Anna. Der Krieg ist gerade vorbei, aber für sie hat er zu lange gedauert, man sieht ihr den Nahrungsmangel an. Sie wog nur noch 80 Pfund mit Kleidung (>brutto< in Richards eigenartigem Humor). Sie starb am 23. August 1945, dem Friedhofsregister zufolge an »zu ernster Abmagerung«. Richard starb 1950, wenige Wochen vor Weihnachten. Er wurde 77 Jahre alt.
Jede Zeit hat ihre eigenen Vorstellungen von dem Gang durch die Zeiträume eines Menschenlebens. Sie fanden ihren Ausdruck in Symbolen, Metaphern, Sprichworten, Allegorien. In der mittelalterlichen Vorstellung war das Leben oft eine Reise oder eine Pilgerfahrt, Bücher erzählten, was einen Menschen zwischen Abreise und Bestimmungsort überkommen konnte. Manchmal wurde diese Reise gemalt: in einer Ecke des Tafelbilds sieht man ein Kind auf einem Weg, das in immer älteren Versionen von sich selbst über das gesamte Gemälde wandert. Beliebt war auch die >Treppe des Lebens<, wo der kleine Junge, der links die erste Stufe erklimmt, rechts als Greis wieder hinabsteigt. Die Anzahl der Stufen war unterschiedlich, genau wie die Perioden, in die man ein Leben einteilte: es gibt welche mit sieben, aber auch mit zehn. Die Lebensperioden konnten auch mit der Verteilung der Zeit selbst verbunden werden. Auf Tizians Allegoria della Prudenza, gemalt zwischen 1560 und 1570, sind drei Gesichter unter dem Text zu sehen: »Durch Erfahrung aus der Vergangenheit tritt die Gegenwart behutsam auf, um keine zukünftigen Taten zu verderben.« Ein alter Mann und ein Junge schauen im Profil in die Vergangenheit und in die Zukunft, ein Mann mittleren Alters schaut dem Betrachter gerade ins Gesicht. Bei manchen Uhrwerken an den Fassaden von Kathedralen oder Rathäusern drehten sich die
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