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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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wegzuwerfen, wenn sich die neuste Auflage anscheinend in nichts von der vorherigen unterscheidet.
    Die Konfrontation damit, wie man früher aussah, wird in unserer Zeit - und in unserem Teil der Welt - durch Fotos hergestellt, viel weniger durch Erinnerungen. Die Fotografie hat das Verhältnis unserer Erinnerungen an das Äußere verändert. Vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es folgendes Problem noch nicht: Man denkt an jemanden und zweifelt daran, ob man sich nun an sein Gesicht erinnert oder an ein Foto. Dieser Zweifel folgt aus der Sicherheit, die ein Foto nun einmal bietet, das Wissen, daß er damals, bei jener Gelegenheit, so ausgesehen hat: jener Augenaufschlag, diese Frisur, diese Züge. Von fast jedem Menschen existiert so etwas wie eine fotografische Biographie, von der Geburt bis zum heutigen Tag oder bis zum Tod, eine visuelle Dokumentation, die vielleicht nicht in jeder Phase des Lebens gleich intensiv geführt wird, aber dennoch das ganze Leben umspannt und die Veränderungen behält, die unserem Gedächtnis zu langsam gehen.
    Ab dem ersten Jahr ihrer Ehe, 1900, hat sich das Berliner Ehepaar Anna und Richard Wagner am Weihnachtsabend selbst fotografiert und dieses Foto als Weihnachtskarte an Freunde geschickt. Die Serie läuft bis 1942, drei Jahre vor dem Tod Annas. Nur wenige Jahre fehlen. Eine Freundin der Wagners verwahrte alle Fotos. Fast ein halbes Jahrhundert später fand man sie auf einem Speicher im ehemaligen Ostberlin und veröffentlichte sie. Auf allen Fotos ist, oberflächlich betrachtet, dasselbe zu sehen. Das Ehepaar selbst, ein Tisch, auf dem Weihnachtsgeschenke liegen, ein Weihnachtsbaum, eine Einrichtung, an der sich nur wenig verändert. Es ist auch immer wieder derselbe Tag des Jahres. Aber gegen den regungslosen Hintergrund sieht man um so schärfer, wie die
    Jahreszeiten in einem Menschenleben wechseln. Man sieht, wie sich die Veränderungen allmählich vollziehen, aber manchmal auch abrupt, so wie jedes Jahr auch einen ersten Frühlingstag hat oder es eines Morgens plötzlich Winter geworden zu sein scheint. Gerade indem sie sich selbst mit jedem Klick des Selbstauslösers genau ein Jahr weiterschieben, zeigen die Wagners, daß Alterung nicht im gleichmäßigen Rhythmus des Kalenders verläuft.
    Richard Wagner, geboren 1873, war schon ein leidenschaftlicher Fotograf, bevor er Anna heiratete. Er kaufte immer wieder mit neuster Technik ausgestattete Kameras, selbst wenn ihn das einen Monatslohn oder mehr kostete. Die Weihnachtsfotos sind stereoskopische Aufnahmen. Das Ehepaar Wagner - Anna war ein Jahr jünger - gehörte zur Mittelschicht. Richard war als Sekretär bei der Eisenbahn angestellt und arbeitete sich schließlich zum Reichsbahninspektor hoch. Sie wohnten anfangs in Essen, verlegten aber 1911 ihren Wohnsitz nach Berlin in die Salzburger Straße, wo sie eine neue Wohnung mit zweieinhalb Zimmern bezogen. Dort blieben sie bis zu ihrem Tod. Uber ihre politischen Auffassungen ist nichts bekannt, auch wenn das Porträt von Wilhelm I., das noch über dem Sofa hängen blieb, als der Kaiser schon lange in den Niederlanden Unterschlupf gefunden hatte, suggeriert, daß sie zum Konservativen neigten. Richard hat in keinem der beiden Weltkriege in der deutschen Armee dienen müssen, dafür war er 1914 mit seinen 41 Jahren schon zu alt. Die Wagners blieben kinderlos.
    Auf dem ersten Foto aus dem Jahre 1900 sehen Richard und Anna jünger aus als 27 und 26 Jahre. Anna spielt mit der Hauskatze Mietz, Richard richtet noch etwas am Weihnachtsbaum, die Szenerie vermittelt ein bißchen den Eindruck, als würden sie Vater und Mutter spielen. Auf dem Tisch ist zum ersten Mal das Stilleben der Weihnachtsgeschenke angeordnet worden, das auf allen Fotos einen so prominenten Platz behalten sollte. Richard bekam von Anna das Album, das vor ihm auf dem Tisch liegt und in dem 200 Ansichtskarten Platz fanden. Viele der Gegenstände in ihrem Zimmer werden auch noch auf den Fotos von unzähligen Jahren danach zu sehen sein. Die Tischdecke, die Büsten an der
    Wand, der Teppich, die Stühle, die Nippsachen - die Wagners gehörten zu der Generation, deren Aussteuer sie ein Leben lang begleitete.
    15 Jahre später haben sich die äußeren Umstände drastisch verändert. Auf einer Landkarte von Europa, die auch schon auf dem Foto von 1914 zu sehen war, ist der erfolgreiche Aufmarsch der deutschen Truppen nach vollzogen. Obwohl es viele Lebensmittel schon auf Gutschein gab, genau wie Kleidung,

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