Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
möglich natürlich höhere Lebensstellung zu bringen«. [311] Adolf Hitler sollte studieren. Er scheiterte an der Realschule und später an der Aufnahmeprüfung zur Kunstakademie. Aber die höhere Lebensstellung erklomm er dennoch und mit atemberaubendem Tempo. Im Ersten Weltkrieg erwarb er als 25-jähriger Meldegänger – eine Tätigkeit, die Mut, Umsicht und Geistesgegenwart verlangt – schon 1914 das Eiserne Kreuz II. Klasse, wurde Gefreiter und erhielt 1917 (auf Vorschlag des jüdischen Regimentsadjutanten Hugo Gutmann) das Eiserne Kreuz I.Klasse. Mit 32 Jahren brachte es Hitler zum Parteivorsitzenden, mit 43 zum Reichskanzler.
Nimmt man die biographischen Daten der Gauleiter zusammen, dann gehörten die Repräsentanten der NSDAP keinesfalls zu dem vom sozialen Abstieg bedrohten, radikalisierten alten, häufig als Kleinbürgertum bezeichneten Mittelstand. Vielmehr repräsentierten sie die aus den unteren Schichten in die nächsthöhere Schicht drängenden Deutschen. Sie vertraten nicht, wie so oft behauptet wurde, die Absteiger oder Abstiegsgefährdeten, sondern diejenigen, die aufwärts wollten und angesichts von wirtschaftlichem und politischem Durcheinander um ihre Zukunftschancen bangten und daher umso mehr drängten. Dabei spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht oder Berufsgruppe keine Rolle, ausschlaggebend ist allein die Tatsache des Aufwärtsstrebens – von welchem gesellschaftlichen Ausgangspunkt auch immer. Die NSDAP repräsentierte den Landarbeitersohn, der Facharbeiter werden wollte, den Arbeitersohn, der es zum Techniker gebracht hatte, den Handwerkersohn, der als Werkstudent Jura studierte, die Bahnschaffnertochter, die den neuen Beruf der Fotografin anstrebte, die Bauerntochter, die es in die Großstadt verschlagen hatte. Die NS-Bewegung nahm die Ziele und Ängste derjenigen auf, die sozial in Bewegung geraten waren. Diese klassenübergreifende Großgruppe zählte um 1930 Millionen, die soziologisch nur eines verband: der Wunsch nach Aufstieg und Anerkennung. [312]
Nach der Untersuchung von Bruno Bettelheim und Morris Janowitz nahm der Antisemitismus in solchen Gruppen besonders zu, die entweder sozialen Abstieg befürchteten oder sich im Prozess der Mobilität nach oben befanden. Daraus folgerten sie, dass es in der Vorurteilsforschung prinzipiell nicht so sehr darauf ankomme, den sozialen und wirtschaftlichen Status eines einzelnen Menschen zu beschreiben, sondern den Grad und die Geschwindigkeit seiner sozialen Mobilität zu erfassen: »Die Frage, die für jeden Einzelnen beantwortet werden muss, lautet, ob er sich vom sozialen Abstieg bedroht oder in seinen sozialen Aufstiegswünschen behindert sieht.« Für den deutschen Fall ebenso interessant ist die Feststellung, »dass langsame soziale Aufwärtsmobilisierung mit tolerantem Verhalten verbunden ist, wohingegen stark beschleunigte Mobilität, sei es nach oben oder nach unten, mit deutlicher zwischenethnischer Feindseligkeit einhergeht« und mit bemerkenswerter »allgemeiner Aggressivität«. [313]
Die Funktionäre der SPD gehörten zu einer aus der Arbeiterklasse bereits aufgestiegenen Mittelschicht von Angestellten und Beamten. Doch verstanden sie deren prekäre Mentalität am allerwenigsten, weil sie für ihre politischen Bewertungen weiterhin marxistische Denkschablonen benutzten. Sie redeten vom feindlichen Bürgertum, vom edlen Proletariat und abschätzig vom Kleinbürgertum. Auf solche Weise konnten sie nicht einmal ihren eigenen sozialen Status zutreffend beschreiben. Ihnen fehlte ein realitätsnahes Bild von den gesellschaftlichen Umbrüchen, der schnellen Auflockerung und ständig steigenden Durchlässigkeit des sozialen Schichtengefüges, von »der ganz andersartigen geistigen und soziologischen Struktur der Angestellten, die, durch den Wirtschaftsprozess entscheidend dynamisiert, wirksame politische Kräfte darstellten«. [314]
1930: Kräftige Krisengewinne der NSDAP
Erst nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise trat die NSDAP aus dem Schatten der Bedeutungslosigkeit. In der Reichstagswahl vom 14. September 1930 gelang es der einstigen Splitterpartei, Millionen Wähler und Wählerinnen zu mobilisieren, insbesondere auch Wahlberechtigte, die schwankten, ob sie überhaupt ihre Stimme abgeben sollten, und Jungwähler. Ihre plötzliche Popularität gewann die NSDAP als gesamtdeutsche Protestpartei im Zeichen des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs: »Protest gegen die Novemberrevolution und den
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