Warum französische Frauen nicht dick werden (German Edition)
die das kommende Jahr in Frankreich verbringen sollte.
Mein Vater hatte mich ein Jahr nicht gesehen, und da er sich normalerweise nicht scheute, seine Gefühle zu zeigen, nahm ich an, er würde mich dadurch in Verlegenheit bringen, dass er die Gangway hinaufgestürmt kam, um mich ausführlich zu umarmen und abzuküssen. Aber als ich den kleinen Franzosen mit seiner vertrauten Baskenmütze – ja, einer Baskenmütze – entdeckte, sah er wie benommen aus. Ich ging, jetzt etwas zögerlich, auf ihn zu, und er starrte mich einfach nur an. Wir kamen näher. Die Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, bis er es schließlich fertig brachte – vor meinem Bruder und meiner amerikanischen Reisebegleiterin –, zu seinem geliebten kleinen Mädchen, das zurück nach Hause kam, zu sagen: »
Tu ressembles à un sac de patates
– du siehst aus wie ein Sack Kartoffeln.« Es gibt Dinge, die auch auf Französisch nicht besser klingen als in anderen Sprachen. Ich wusste, woran er dachte: nicht an einen der kleinen Beutel vom Wochenmarkt, sondern einen der großen, groben 150-Pfund-Säcke, wie sie an Lebensmittelläden und Restaurants geliefert werden! Glücklicherweise sprach die junge Amerikanerinaus Weston noch wenig Französisch, sonst hätte sie einen seltsamen ersten Eindruck vom französischen Familienleben bekommen.
Mit 19 kann einem kaum etwas gesagt werden, das verletzender ist, und bis heute hat mich nichts mehr so getroffen. Dabei meinte es mein Vater nicht böse. Besonderer Takt war allerdings nie seine Stärke gewesen, und die Überempfindlichkeit eines Teenagers, was Aussehen und Gewicht angeht, war damals noch nicht das sprichwörtliche Schlagloch, das Eltern heute notfalls zu umfahren wissen. Seine vernichtende Begrüßung war vor allem darauf zurückzuführen, dass ihn mein Anblick völlig unvorbereitet getroffen hatte. Trotzdem wurde ich nicht damit fertig. Ich war traurig, wütend, verärgert und hilflos; ohne mir darüber klar zu sein, wie tief ich verletzt war.
Auf unserem Weg nach Hause machten wir für ein paar Tage Station in Paris, um meiner Freundin aus Weston die Stadt an der Seine zu zeigen, aber meine erbarmungslos schlechte Laune ließ alle die Weiterreise herbeisehnen. Ich verdarb uns die Zeit in Paris. Ich war völlig durcheinander.
Die nächsten zwei Monate waren bitter und schwierig. Ich wollte nicht, dass mich irgendwer sah, aber alle wollten
l’Américaine
begrüßen. Meine Mutter hatte nicht nur gleich begriffen, wie und warum ich zugenommen hatte, sondern auch, wie ich mich fühlte. Sie ging behutsam vor und vermied das unvermeidbare Thema, vielleicht gerade auch, weil ich ihr schon bald einen noch schwereren Brocken aufgetischt hatte.
Nachdem ich nun etwas von der Welt gesehen hatte, war mir der Geschmack daran vergangen, die örtliche Universität zu besuchen. Ich wollte Sprachen an der Grande École in Paris studieren und zusätzlich Literatur an der Sorbonne. Das war ungewöhnlich und bedeutete ein irrsinnigesArbeitspensum. Meine Eltern waren absolut nicht von der Idee begeistert: Wenn ich in Paris angenommen wurde (was nicht sicher war – alle wollten dorthin), würde es ein großes emotionales und auch finanzielles Opfer bedeuten, wenn ich dreieinhalb Stunden von zu Hause entfernt lebte. Ich musste also ziemlich kämpfen, aber nicht zuletzt dank meiner sowieso bloßliegenden Nerven ließen sie mich schließlich ziehen, um die berühmt-berüchtigte Eingangsprüfung zu absolvieren. Ich bestand und zog Ende September nach Paris. Meine Eltern wollten immer nur das Beste für mich.
Bis Allerheiligen hatte ich noch einmal fünf Pfund zugenommen, bis Weihnachten waren es zehn. Bei 1,60 Meter Größe war ich jetzt fraglos übergewichtig, welchen Maßstab man auch zugrunde legte; nichts passte mir mehr, nicht einmal mein amerikanisches Sommerkleid. Ich besaß mittlerweile zwei Flanellkleider – genauso geschnitten, aber weiter –, um meine Unförmigkeit zu verstecken. Ich trieb meinen Schneider an und hasste mich jede Minute des Tages. Der
faux pas
meines Vaters in Le Havre schien mehr und mehr gerechtfertigt. Es waren trübe Tage, an deren Ende ich mich in den Schlaf heulte. Ich vermied alle Spiegel, und auch wenn diese Erfahrung für eine 19-Jährige nicht allzu außergewöhnlich erscheinen mag – von meinen französischen Freundinnen machte keine Ähnliches durch.
Dann geschah so etwas wie ein Weihnachtswunder. Oder vielleicht sollte ich sagen, »Dr. Wunder« erschien,
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