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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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die Frage nicht selbst gestellt zu haben, gibt aber zu, dass sie ihre eigenen Neurosen hervorragend widergespiegelt hätte.
    Andis Hauptsorge, die sie bei diesem Treffen lieber nicht zur Sprache brachte, war, was wäre, wenn ihr Sohn während des Ausflugs traurig oder verzweifelt sein würde. »Kommt das zu Hause vor, versuche ich ihm zu helfen, aus seinen Gefühlen schlau zu werden. Wenn er weint, ohne dass ich weiß, warum, frage ich: ›Bist du verängstigt, frustriert oder wütend?‹ Das ist doch meine Aufgabe, so nach dem Motto ›Das stehen wir jetzt gemeinsam durch‹.«
    Das französische Beharren auf Selbstständigkeit erstreckt sich nicht nur auf Schulausflüge. Mir bleibt noch heute regelmäßig das Herz stehen, wenn ich durch unser Viertel laufe, weil die Franzosen ihre kleinen Kinder oft auf dem Bürgersteig vor sich herrennen lassen. Sie verlassen sich darauf, dass die Kinder an der nächsten Straßenecke stehen bleiben und auf sie warten. Besonders schwer fällt es mir, das mit anzusehen, wenn die Kinder Roller fahren.
    Ich nehme immer gleich das Schlimmste an. Wenn ich unterwegs zufällig meine Freundin Hélène treffe und wir stehen bleiben, um zu reden, lässt sie ihre drei Mädchen bis zur Bordsteinkante weiterlaufen. Sie vertraut darauf, dass sie nicht plötzlich auf die Straße springen. Auch Bean würde das vermutlich nicht tun. Aber zur Sicherheit befehle ich ihr, neben mir stehen zu bleiben und meine Hand zu halten. Simon erinnert mich daran, dass ich einmal nicht mit Bean auf der Zuschauertribüne sitzen wollte, weil sie vom Ball getroffen werden könnte.
    In Frankreich gibt es viele Momente, in denen ich meinen Kindern gern weiterhelfen würde. Doch es wird erwartet, dass sie allein zurechtkommen. Ich treffe oft Erzieherinnen aus der crêche der Jungen, während sie eine Gruppe Kleinkinder die Straße entlangführen, um Baguettes zu kaufen. Bean war auf Ausflügen in den Zoo oder in einen großen Park vor den Toren von Paris, was ich rein zufällig Wochen später erfahre, als ich sie in denselben Zoo mitnehme. Ich werde nur selten gebeten, Verzichtserklärungen zu unterschreiben. Französische Eltern scheinen sich keine Sorgen zu machen, dass auf diesen Ausflügen irgendwas Schlimmes passieren könnte.
    Als Bean eine Ballettaufführung hat, darf ich nicht mal hinter die Bühne. Ich passe auf, dass sie weiße Leggins dabeihat, denn das ist die einzige Mitteilung an die Eltern. Ich spreche nicht einmal mit der Lehrerin. Sie hat eine Beziehung zu Bean und nicht zu mir. Als wir das Theater erreichen, übergebe ich Bean einer Assistentin, die sie hinter die Bühne begleitet.
    Seit Wochen hat Bean gejammert: »Ich will keine Marionette sein.« Ich habe nie richtig verstanden, was sie damit meint, doch als der Vorhang aufgeht, wird mir alles klar. Bean und ein Dutzend weitere kleine Mädchen kommen verkleidet und geschminkt auf die Bühne und zappeln absichtlich zu einem Lied mit dem Titel »Marionetta« mit Armen und Beinen. Dass die Mädchen den Takt nicht halten, ist jedoch keine Absicht. Sie sehen aus wie Marionetten auf der Flucht, die zu viel Cognac getrunken haben.
    Doch wie sich herausstellt, hat Bean ohne mein Wissen eine zehnminütige Choreographie eingeübt. Als sie nach der Vorstellung hinter der Bühne hervorkommt, lobe ich sie überschwänglich, aber sie sieht enttäuscht aus.
    »Ich habe ganz vergessen, dass ich keine Marionette sein wollte!«
    Französische Kinder sind nicht nur eigenständiger, wenn es um außerschulische Aktivitäten geht, sondern auch im Umgang miteinander. Französische Eltern greifen bei Spielplatzstreitigkeiten oder Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern längst nicht so schnell ein. Sie erwarten, dass die Kinder das unter sich ausmachen. Französische Pausenhöfe sind bekannt dafür, dass alles erlaubt ist, während die Erzieher meist nur am Rand stehen und zuschauen.
    Als ich Bean eines Nachmittags von der Vorschule abhole, hat sie eine rote Schramme an der Wange. Die Wunde ist nicht tief, blutet aber. Sie will mir nicht erzählen, was passiert ist. (Sie scheint sich keine Sorgen deswegen zu machen und hat auch keine Schmerzen.) Ihre Erzieherin behauptet, nicht zu wissen, was los war. Ich bin fast schon in Tränen aufgelöst, als ich die Vorschuldirektorin befrage, aber sie weiß auch nichts darüber. Alle staunen, welches Theater ich wegen einer kleinen Schramme mache.
    Meine Mutter ist gerade auf Besuch, und sie kann dieses Laissez-faire kaum fassen.

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