Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
soll, dass bald Besuch vor der Tür steht. »Klingelt es, sagen Sie ihm, dass der Besuch da ist, und warten ein paar Sekunden, bevor Sie die Tür öffnen … Weint es nicht, sobald es den Besuch sieht, vergessen Sie nicht, ihm zu gratulieren!«
Ich höre von mehreren Fällen, in denen französische Eltern ihrem Neugeborenen, das sie gerade aus dem Krankenhaus geholt haben, erst einmal die Wohnung zeigen. 24 Französische Eltern sagen ihren Kindern auch oft, was sie mit ihnen vorhaben: »Ich nehme dich jetzt hoch.«, »Ich wechsle deine Windel.«, »Ich bereite dich auf ein Bad vor.« Das dient nicht nur dazu, beruhigende Laute zu produzieren, sondern auch, Informationen zu vermitteln. Und da das Baby ein Mensch ist wie jeder andere auch, gehen die Eltern sehr höflich mit ihm um. (Mal ganz abgesehen davon, dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, jemandem gute Manieren beizubringen!)
Die praktischen Auswirkungen der Auffassung, dass ein Baby oder Kleinkind versteht, was man sagt, und sich entsprechend verhalten kann, sind enorm. Denn das bedeutet, dass man ihm von klein auf beibringen kann durchzuschlafen, nicht jeden Morgen ins Schlafzimmer zu platzen, sich bei Tisch anständig hinzusetzen, nur zu den Mahlzeiten zu essen und die Eltern nicht mitten im Satz zu unterbrechen. Das wird mir klar, als Bean zehn Monate alt ist. Sie beginnt, sich an unserem Wohnzimmerregal hochzuziehen und sämtliche Bücher herauszureißen, an die sie herankommt.
Das ist natürlich nervig. Aber ich glaube nicht, dass ich sie davon abhalten kann. Ich hebe die Bücher einfach immer wieder auf und stelle sie zurück. Aber eines Morgens kommt Simons französische Freundin Lara auf Besuch. Als sie sieht, dass Bean Bücher aus dem Regal zieht, kniet sie sich sofort neben sie und sagt geduldig, aber bestimmt: »So etwas tut man nicht.« Dann zeigt sie Bean, wie man die Bücher zurückstellt, und befiehlt ihr, sie dort zu lassen. Lara benutzt immer wieder das französische Wort doucement (»sanft«). Danach fällt mir auf, dass französische Eltern ständig doucement sagen. Ich bin völlig baff, als Bean auf Lara hört und gehorcht.
Ich hatte angenommen, dass Bean ein niedliches, wildes Geschöpf mit viel Potenzial ist, aber über so gut wie keine Selbstbeherrschung verfügt. Benahm sie sich ausnahmsweise einmal artig, dann nur als Ergebnis einer Art Dressur oder aus purem Zufall …
Aber Lara (damals noch kinderlos und heute Mutter zweier wohlerzogener Töchter) ging davon aus, dass Bean auch schon im Alter von zehn Monaten in der Lage ist, Sprache zu verstehen und sich zu beherrschen. Sie war davon überzeugt, dass Bean doucement handeln kann, wenn sie das will. Mit dem Ergebnis, dass Bean es auch tatsächlich tat.
Dolto starb 1988. Einige ihrer intuitiven Erkenntnisse über Babys werden heute von wissenschaftlichen Experimenten bestätigt. Forscher haben erkannt, dass man herausfinden kann, was Babys begreifen, indem man misst, wie lange sie bestimmte Dinge anschauen. Wie Erwachsene betrachten Babys Dinge länger, die sie erstaunen. Anfang der 1990er-Jahre konnte man so nachweisen, »dass Babys mit Gegenständen die Grundlagen der Mathematik begreifen« und »ein Verständnis für Denkprozesse haben: Sie haben eine Vorstellung davon, was andere denken und warum sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten«, so der Yale-Psychologe Paul Bloom. 25 Eine Studie an der British Columbia University ergab, dass acht Monate alte Kinder bereits Wahrscheinlichkeiten begreifen. 26
Es gibt auch Belege dafür, dass Babys bereits so etwas wie ein Moralempfinden haben. Bloom und andere Forscher zeigten sechs bis zehn Monate alten Babys eine Art Marionettenvorführung, bei der ein Reifen versucht, den Hügel hinaufzurollen. Ein »Helfer« hilft dem Reifen hinaufzukommen, während ein »Verhinderer« ihn wieder hinunterschubst. Nach der Vorführung bot man den Babys die »Helfer-« und die »Verhindererfigur« auf einem Tablett an. Fast alle griffen nach der Helferfigur. »Babys fühlen sich von den Guten angezogen und von den Bösen abgestoßen«, so Paul Bloom.
Natürlich beweisen diese Experimente nicht, dass Babys Sprache verstehen, so wie Dolto das behauptet hat. Aber sie scheinen ihre Auffassung zu stützen, dass Babys schon ab einem sehr zarten Alter vernunftbegabte Wesen sind. Wir sollten also darauf achten, was wir zu ihnen sagen.
17 Elisabeth Badinter, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute ,
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