Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Eltern standen unter dem Einfluss von Dr. Spock, der fünf Jahre vor Dolto zur Welt kam und ebenfalls eine Ausbildung als Psychoanalytiker machte. Spock schrieb, dass ein Kind frühestens mit anderthalb Jahren verstehen kann, dass es ein Geschwisterchen bekommt. Spocks Stärke bestand darin, den Eltern aufmerksam zuzuhören, nicht den Babys. »Sie wissen nämlich mehr, als sie sich selbst zutrauen«, lauten die berühmten Eröffnungssätze seines Erziehungsratgebers Säuglings- und Kinderpflege .
Dolto dagegen glaubte, dass es die Kinder sind, die mehr wissen als gedacht.
Noch in hohem Alter, als sie bereits auf ein Beatmungsgerät angewiesen war, ging Dolto auf alle viere, um die Welt aus Kinderperspektive zu betrachten. Und war faszinierend direkt:
»Gibt es keinerlei Eifersucht, wenn ein Baby kommt … ist das ein sehr schlechtes Zeichen. Das ältere Kind sollte seine Eifersucht zeigen, denn es ist mit einem echten Problem konfrontiert. Zum ersten Mal bekommt es mit, dass jemand Jüngeres bewundert wird«, so Dolto.
Dolto war überzeugt, dass Kinder rationale Gründe haben, auch wenn sie sich schlecht benehmen. Es sei die Aufgabe der Eltern, zuzuhören und diese Gründe zu erkennen. »Das Kind, das eine ungewöhnliche Reaktion zeigt, hat immer einen Grund dafür … Unsere Aufgabe besteht darin zu verstehen , was passiert ist.«
Dolto nennt das Beispiel eines Kleinkinds, das sich auf einmal weigert, auf dem Bürgersteig zu gehen. Auf die Eltern wirkt das wie purer Trotz. Aber das Kind hat einen Grund dafür. »Wir sollten versuchen, ihn zu verstehen, und sagen: ›Es gibt einen Grund dafür, aber ich verstehe ihn nicht, also lass uns darüber nachdenken.‹ Auf keinen Fall sollte man ein Drama daraus machen.«
In einer Festschrift zum hundertsten Geburtstag Doltos hat ein französischer Psychoanalytiker ihre Lehre folgendermaßen zusammengefasst: »Menschen sprechen miteinander wie Menschen. Manche von ihnen sind groß, andere klein. Aber sie kommunizieren miteinander.« 23
Spocks Riesenband Säuglings- und Kinderpflege scheint jedes nur erdenkliche Szenario mit Kindern berücksichtigen zu wollen, angefangen von verstopften Tränendrüsen bis hin zu gleichgeschlechtlichen Eltern (in posthum erschienenen Ausgaben). Doltos Bücher hingegen passen in jede Handtasche. Anstatt jede Menge detaillierte Anweisungen zu geben, zählt sie immer wieder ein paar Grundprinzipien auf und erwartet, dass die Eltern sich ihre eigenen Gedanken dazu machen.
Dolto willigte nur unter der Bedingung in die Radiosendung ein, dass sie darin nicht auf telefonisch eingehende Höreranfragen, sondern auf Briefe antwortete. Sie glaubte, dass die Eltern meist schon selbst auf die Lösungen kommen würden, wenn sie ihr Problem schriftlich formulierten. Ihre Kritiker warfen Dolto vor, eine zu nachlässige Erziehung zu propagieren, vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum man ihren Rat so auffassen konnte. Einige Eltern glaubten, einem Kind zuhören bedeute auch, das zu tun, was es sagt.
Doch genau das hat Dolto nicht empfohlen. Sie hat daran geglaubt, dass Eltern ihren Kindern aufmerksam zuhören und ihnen die Welt erklären sollen. Aber sie war auch der Ansicht, dass diese Welt Grenzen hat und dass das Kind diese Grenzen als rationales Wesen verstehen und akzeptieren kann. Dolto wollte Rousseaus cadre -Modell nicht auf den Kopf stellen. Sie wollte es erhalten. Sie hat nur jede Menge Empathie und Respekt vor dem Kind hinzugefügt.
Die Eltern, mit denen ich heute in Paris zu tun habe, scheinen tatsächlich ein Gleichgewicht zwischen »auf das Kind hören« und »ihm klarmachen, dass sie die Eltern sind« gefunden zu haben. (Auch wenn sie sich das immer mal wieder ins Gedächtnis rufen müssen.) Französische Eltern hören ihren Kindern stets aufmerksam zu. Aber auch wenn die kleine Agathe sagt, sie wolle ein pain au chocolat zum Mittagessen, bekommt sie es nicht.
Französische Eltern haben Dolto zum Fundament ihrer Erziehung gemacht (während sie gleichzeitig auf Rousseaus Schultern stehen). Hat ein Baby schlimme Träume, »beruhigt man es, indem man mit ihm spricht«, so Alexandra, die in einer Pariser Kindertagesstätte arbeitet. »Ich bin sehr dafür, sprachlich mit Kindern zu kommunizieren, auch mit ganz kleinen. Sie verstehen uns. Meiner Meinung nach verstehen sie alles.«
Die französische Zeitschrift Parents schreibt, dass eine Mutter ihr Baby, das stark »fremdelt«, darauf vorbereiten
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