Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
beim Abendessen nicht den Mund aufmachen durften, bevor sie von einem Erwachsenen dazu aufgefordert wurden. Von Kindern wurde häufig erwartet, dass sie » sage comme une image « sind (stumm wie ein Bild), eine Entsprechung des altenglischen Sprichworts, dass man Kinder zwar sehen, aber nicht hören solle.
Dieses Verständnis begann sich Ende der 1960er-Jahre zu ändern. Im März 1968 lösten Studentenproteste an den Universitäten von Paris und Nanterre eine Reihe von landesweiten Studenten- und Arbeiteraufständen aus.
Die 1968er-Revolte hatte großen Einfluss auf die französische Gesellschaft und ihr fiel auch das autoritäre Erziehungsmodell zum Opfer. Wenn alle gleich sind, warum sollen Kinder dann beim Abendessen nicht den Mund aufmachen dürfen? Das reine Rousseau-Modell – Kinder sind unbeschriebene Blätter – passte nicht mehr zu Frankreichs frisch emanzipierter Gesellschaft. Außerdem waren die Franzosen fasziniert von der Psychoanalyse. Plötzlich glaubte man, dass Eltern, die ihre Kinder zum Schweigen bringen, sie auch seelisch mundtot machen.
Von französischen Kindern wird nach wie vor erwartet, dass sie sich gut benehmen und sich beherrschen können, aber nach 1968 wurden sie gleichzeitig ermutigt, sich frei zu entfalten. Die jungen französischen Eltern aus meinem Bekanntenkreis nehmen das Wort sage häufig in den Mund und meinen damit, sich beherrschen zu können, aber auch begeistert in einer Beschäftigung aufzugehen.
An diesem Generationenaufstand nahm auch Françoise Dolto teil, eine Koryphäe der französischen Erziehung. Alle Franzosen, mit denen ich spreche – sogar solche, die selbst gar keine Kinder haben –, können kaum glauben, dass Dolto in anderen Ländern nicht so bekannt ist.
Mitte der 1970er-Jahre war Dolto Ende sechzig und bereits die berühmteste Psychoanalytikerin und Kinderärztin Frankreichs. 1976 begann ein französischer Radiosender mit einer täglichen Zwölfminutensendung, in der Dolto Erziehungsfragen von Hörern beantwortete. »Niemand hat damals geahnt, welch unmittelbaren, lang anhaltenden Erfolg dieses Programm haben würde«, erinnert sich Jacques Pradel, der damals 27-jährige Moderator der Sendung. Er beschreibt ihre Antworten auf Hörerfragen als »genial, ja fast hellsichtig«. 21
Als ich mir Filmausschnitte mit Dolto aus dieser Zeit ansehe, verstehe ich, warum sie so einen Erfolg bei besorgten Eltern hatte. Mit ihrer dicken Brille und ihren etwas altmodischen Kleidern sah sie aus wie eine weise Oma. Und sie besaß die Gabe, alles, was sie sagte – selbst ihre gewagtesten Behauptungen –, so zu formulieren, dass man sie für gesunden Menschenverstand hielt.
Dolto sah vielleicht aus wie eine liebe alte Oma, aber ihre Erziehungsvorschläge waren herrlich radikal und passten perfekt in die neue Zeit. Sie redete einer Art Baby-Emanzipation das Wort und behauptete, dass Säuglinge vernunftbegabte Wesen sind und sprachliche Äußerungen verstehen können. Das ist eine fast schon mystische Botschaft. Eine Botschaft, der die meisten Franzosen noch heute anhängen, auch wenn sie das vielleicht mit anderen Worten sagen. Nachdem ich Dolto gelesen hatte, war mir klar, dass viele seltsame Ratschläge, die ich von französischen Eltern gehört habe, wie den, dass man mit Babys über ihre Schlafprobleme reden soll, direkt von ihr stammen.
Doltos Radiosendungen ließen sie in Frankreich zu einer Art Mythos werden. Bis weit in die 1980er-Jahre bildeten ihre Bücher meterhohe Stapel in französischen Supermärkten. Ganze Scharen von Kindern galten als » Génération Dolto «. Doltos Kernaussage ist keine komplizierte »Erziehungsphilosophie«. Sie besteht auch nicht aus einer Unmenge von Anweisungen. Aber wenn man akzeptiert, dass Kinder vernunftbegabte Wesen sind, ändert das alles. Verstehen Babys, was man zu ihnen sagt, kann man ihnen ziemlich viel beibringen, und das schon in einem sehr frühen Alter. Unter anderem, wie man sich in einem Restaurant benimmt.
Die zukünftige Françoise Dolto wurde 1908 in Paris als Françoise Marette in eine große, wohlhabende katholische Familie hineingeboren. Auf den ersten Blick hatte sie ein beneidenswertes Leben: Geigenunterricht, eine Köchin und Pfauen, die durch den Innenhof stolzierten. Man erwartete von ihr, dass sie eine gute Partie machte.
Aber Françoise war nicht die diskrete, gehorsame Tochter, die sich ihre Eltern wünschten. Sie war nicht sage comme une image . Sie hatte einen starken Willen, nahm kein Blatt
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