Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Marbeau beschreibt, unterscheidet sich gar nicht mal so sehr von dem vieler berufstätiger Mütter heute: »Sie steht vor fünf auf, zieht ihr Kind an, erledigt ein paar Dinge im Haushalt, eilt zur crêche und dann zur Arbeit … Gegen acht eilt sie zurück, holt ihr Kind sowie seine schmutzigen Windeln ab, hetzt nach Hause, um das kleine Geschöpf ins Bett zu stecken und die Windeln zu waschen, damit sie am nächsten Tag trocken sind. Und am nächsten Tag geht das alles wieder von vorne los. Wie um alles in der Welt schafft sie das bloß?«
Marbeau besaß offensichtlich große Überzeugungskraft. Die erste crêche eröffnete in einem zur Verfügung gestellten Gebäude in der Pariser Rue de Chaillot. Zwei Jahre später gab es bereits dreizehn crêches . Und es wurden immer mehr, vor allem in Paris.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die französische Regierung die crêches unter die Aufsicht einer Behörde zum Schutz von Mutter und Kind namens Protection maternelle et infantile ( PMI ) und schuf ein offizielles Ausbildungsprogramm für den Beruf der puéricultrice , der Kinder- und Säuglingspflegerin.
Anfang der 1960er-Jahre war das Leben der französischen Unterschicht weniger angespannt, und es gab weniger Arme. Dafür wurden immer mehr Mütter aus der Mittelschicht berufstätig, sodass die crêches auch bei Mittelschichtsfamilien auf Interesse stießen. Innerhalb von zehn Jahren verdoppelte sich ihre Anzahl beinahe, und 1971 waren es bereits 32 000. Plötzlich waren Mittelklasse-Mütter beleidigt, wenn sie keinen Platz in der crêche bekamen. Die Krippen wurden zu einer Art Anspruch, denn sie ermöglichten es erst, dass Mütter arbeiten konnten.
Es wurden alle möglichen Varianten von crêches aufgemacht, Teilzeitkrippen, Krippen, in denen die Eltern mitarbeiteten, und Firmenkrippen für die Angestellten. Aufgrund von Françoise Doltos Überzeugung, dass auch Babys Menschen sind, gab es ein neu erwachtes Interesse an einer Kinderbetreuung, die mehr leisten sollte, als die Kinder davor zu bewahren, krank zu werden, oder sie als potenzielle Verbrecher zu behandeln. Schon bald brüsteten sich crêches mit Mittelklasse-Lerninhalten wie »Sozialisierung« und »Erwecken«.
Während meiner Schwangerschaft höre ich von meiner Freundin Dietlind zum ersten Mal von den crêches . Dietlind stammt aus Chicago und lebt seit ihrem Collegeabschluss in Europa. Dietlind ist eine warmherzige Frau, die fantastisch Französisch spricht und sich nach wie vor auf charmante Weise als »Feministin« bezeichnet. Sie ist einer der Menschen aus meinem Bekanntenkreis, der tatsächlich versucht, die Welt zu verbessern. Dietlind hat nur einen »Fehler«: Sie kann nicht kochen. Ihre Familie ernährt sich fast ausschließlich von Tiefkühlkost des französischen Herstellers Picard.
Trotzdem ist Dietlind eine vorbildliche Mutter. Als sie mir erzählt, dass ihre beiden Söhne in die crêche gleichbei mir um die Ecke gegangen sind, werde ich hellhörig. Ihrer Aussage nach war die crêche fantastisch. Jahre später schaut sie immer noch vorbei, um die directrice und die ehemaligen Erzieher ihrer Söhne zu begrüßen. Die Jungs erzählen noch heute (sie sind jetzt fünf und acht Jahre alt) begeistert von ihrer Zeit in der crêche . Ihre Lieblingserzieherin hat ihnen sogar die Haare geschnitten.
Dietlind will ein gutes Wort für mich bei der directrice einlegen. Sie wiederholt allerdings ständig, dass die crêche nicht fancy sei. Ich weiß nicht recht, was das heißen soll. Glaubt sie, ich stehe auf Philippe-Starck-Laufställe? Ist fancy nicht auch ein anderes Wort für »dreckig«?
Obwohl ich meiner Mutter gegenüber sehr multikulti-mäßig getan habe, teile ich insgeheim einige ihrer Zweifel. Dass die crêche von der Stadt Paris geführt wird, finde ich irgendwie gruselig. Das fühlt sich an, als würde ich mein Kind bei der Post abgeben. Ich stelle mir vor, wie gesichtslose Bürokraten an Beans Bettchen vorbeihuschen, während sie weint. Vielleicht möchte ich doch lieber etwas, das fancy ist, was auch immer das heißen mag. Vielleicht möchte ich mich lieber doch selbst um Bean kümmern.
Leider geht das nicht. Ich schreibe an einem Buch, das eigentlich schon fertig sein sollte, bevor Bean zur Welt kam. Nach der Geburt habe ich mir ein paar Monate freigenommen. Aber jetzt rückt mein ohnehin schon verlängerter Abgabetermin bedrohlich nahe. Wir haben ein reizendes Kindermädchen namens Adelyn von den Philippinen, die morgens kommt und
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