Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
vor den Mund und interessierte sich leidenschaftlich für die Menschen ihrer Umgebung.
Wie Simone de Beauvoir, die ebenfalls 1908 geboren wurde, gehörte Françoise zur ersten Mädchengeneration, die das baccalauréat , die französische Hochschulreife, ablegen durfte. Nachdem sie das bac bestanden hatte, fügte sich Dolto dem Druck ihrer Eltern und entschloss sich zu einer Ausbildung als Krankenschwester. Erst als ihr jüngerer Bruder Philippe mit dem Medizinstudium begann, erlaubten ihr die Eltern, Medizin zu belegen. Selbstverständlich unter seiner Aufsicht. Sie studierte Kindermedizin und Psychoanalyse, was damals noch recht unüblich war. Ihre Familie schien zu glauben, das werde sie von ihrem unweiblichen Ehrgeiz heilen.
Was für einen Erziehungsexperten ungewöhnlich ist: Dolto war ihren drei Kindern eine ausgezeichnete Mutter. Ihre Tochter Catherine schreibt über ihre Eltern: »Zum Beispiel haben sie uns nie gezwungen, Hausaufgaben zu machen. Doch wenn wir schlechte Noten hatten, fielen wir durch wie alle anderen auch. Ich musste jeden Donnerstag wegen schlechten Betragens nachsitzen. ›Wenn du das leid bist, wirst du schon irgendwann den Mund halten‹, so meine Mutter.«
Dolto konnte sich zeitlebens ganz genau daran erinnern, wie es war, die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Sie lehnte die vorherrschende kinderärztliche Meinung, Kinder als bloße Ansammlung körperlicher Symptome zu betrachten, vehement ab. (Damals schloss man Bettnässer noch an »Pipi-Stopper« an, die elektrische Schläge freisetzten.) Stattdessen sprach sie mit Kindern über deren Leben und lernte daraus, dass viele körperliche Probleme psychische Ursachen haben. »Und du, was denkst du?«, pflegte sie ihre jungen Patienten zu fragen. 22
Dolto war bekannt dafür, dass sie darauf bestand, von älteren Kindern nach jeder Sitzung mit einem Gegenstand, wie etwa einem Stein, »bezahlt« zu werden, um deren Unabhängigkeit und Verantwortung zu betonen. Doltos Respekt galt bereits Babys. Eine ehemalige Studentin beschreibt, wie Dolto mit einem aufgebrachten, wenige Monate alten Kleinkind umging: »Alle ihre Sinne waren hellwach, sie war absolut empfänglich für die Gefühle, die das Baby in ihr auslöste. Es ging nicht darum, es zu trösten, sondern zu begreifen, was das Baby ihr sagen wollte. Oder genauer gesagt, was das Baby sah.« Es gibt legendäre Anekdoten über Dolto, die zu bislang untröstlichen Kleinkindern ging, ihnen einfach erklärte, warum sie im Krankenhaus waren und wo ihre Eltern waren. Daraufhin sollen sich die Babys sofort beruhigt haben.
Damit ist kein oberflächliches Einreden auf die Babys gemeint, weil man glaubt, dass Babys die Stimme ihrer Mutter erkennen oder sich von den beruhigenden Lauten trösten lassen. Es ist auch keine Methode, dem Kind möglichst früh das Sprechen beizubringen oder es zum nächsten Jonathan Franzen zu machen.
Stattdessen behauptete Dolto, dass auch die Bedeutung der Worte, die man an ein Baby richtet, eine große Rolle spielt. Aus ihrer Sicht ist es unerlässlich, dass Eltern ihren Babys die Wahrheit sagen und ihnen so liebevoll bestätigen, was diese längst wissen.
Dolto glaubte sogar, dass Babys die Unterhaltungen Erwachsener belauschen und die Probleme und Konflikte in ihrer Umgebung intuitiv wahrnehmen – und das sogar schon im Mutterleib! Sie stellte sich vor, dass eine Unterhaltung zwischen der Mutter und ihrem wenige Minuten alten Baby in etwa so verlaufen sollte (Das war noch zu einer Zeit, bevor es Ultraschalluntersuchungen gab.): »Siehst du, wir haben auf dich gewartet. Du bist ein kleiner Junge. Vielleicht hast du gehört, dass wir uns ein kleines Mädchen gewünscht haben. Aber wir freuen uns sehr, dass du ein kleiner Junge bist.«
Dolto schrieb, dass ein Kind schon im Alter von einem halben Jahr in die Scheidungsgespräche seiner Eltern mit einbezogen werden sollte. Stirbt Oma oder Opa, sollte auch ein sehr kleines Kind der Beerdigung kurz beiwohnen: »Jemand aus der Familie begleitet es und sagt, ›Schau, da wird dein Opa beerdigt. So etwas passiert.‹« Dolto wurde von ausländischen Psychoanalytikern dafür kritisiert, dass sie sich zu sehr auf ihre Intuition verließ. Aber in Frankreich schienen die Eltern sowohl einen intellektuellen als auch einen ästhetischen Gewinn aus ihren Gedankensprüngen zu ziehen.
Sollten Doltos Vorstellungen jemals englischsprachigen Eltern zu Ohren gekommen sein, müssen sie sich vermutlich seltsam angehört haben. Amerikanische
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