Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
eigenen Trennungsschmerz. »In Frankreich haben Eltern keine Angst davor, ihre Kinder in die crêche zu schicken«, erklärt mir Marie Wierink, Soziologin beim französischen Arbeitsministerium. » Au contraire , sie haben eher Angst, ihr Kind könnte etwas verpassen, wenn es keinen Platz in der crêche bekommt.«
Kinder lernen in einer crêche nicht lesen. Sie lernen keine Buchstaben und auch nicht schreiben. Stattdessen knüpfen sie Kontakte zu anderen Kindern. »Ich weiß, dass das sehr gut war, es war der Eintritt ins Sozialleben«, so meine Freundin Esther, die Anwältin, deren Tochter mit neun Monaten in eine crêche kam.
Französische Eltern gehen fest davon aus, dass alle crêches von guter Qualität und die Erzieher liebevoll und gut ausgebildet sind. In französischen Eltern-Chatrooms lautete die schlimmste Beschwerde, die ich über eine crêche finden konnte, dass das Kind dort Ravioli und Moussaka auf einmal serviert bekam, also gleich zwei schwere Gerichte. Die Überzeugung, dass die crêche gut für Kinder ist, macht viele mütterliche Ängste und Sorgen überflüssig. Meine Freundin Hélène, eine Ingenieurin, hat im ersten Jahr nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter nicht gearbeitet. Aber auch sie hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen, das kleine Mädchen fünf Tage in der Woche in die Krippe zu geben. Zum einen, um Zeit für sich selbst zu haben, und zum anderen, weil sie ihrer Tochter dieses Gemeinschaftserlebnis nicht vorenthalten wollte.
Der Kampf um die Krippenplätze ist, wie die Franzosen so schön sagen, énergique . In jedem der zwanzig Arrondissements von Paris tritt ein Komitee aus Beamten und Tagesstättenleitern zusammen, um die Plätze zu vergeben. Im betuchten 16. Arrondissement kommen 4000 Bewerber auf 500 Plätze. In unserer nicht ganz so exklusiven Gegend kommen immerhin drei Bewerber auf einen Krippenplatz.
Die Konkurrenz um einen Krippenplatz gehört zu den Initiationsritualen frischgebackener Eltern. In Paris dürfen sich Frauen offiziell bei der Gemeinde um einen Platz bewerben, wenn sie mindestens im sechsten Monat schwanger sind. Aber Zeitschriften empfehlen den Frauen, schon einen Termin mit der Leiterin ihrer gewünschten crêche zu vereinbaren, sobald sie einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand halten.
Bevorzugt werden bei der Vergabe der Krippenplätze Alleinerziehende, Eltern von Mehrlingen oder Adoptivkindern und Haushalte mit drei oder mehr Kindern sowie Familien mit »besonderen Problemen«. Wie man es schafft, in die letzte, zweifelhafte Kategorie zu fallen, ist Gegenstand heftigster Spekulation in diversen Onlineforen. Eine Mutter schlägt vor, den Rathausmitarbeitern zu schreiben, dass man dringend wieder arbeiten müsse und trotz größter Anstrengungen keine andere Form der Kinderbetreuung gefunden habe. Sie rät, diesen Brief zu kopieren und auch an den französischen Präsidenten zu schicken und dann einen Privattermin beim Bezirksstadtrat zu vereinbaren. »Am besten, ihr geht mit dem Baby auf dem Arm dorthin, seht möglichst verzweifelt aus und erzählt dieselbe Geschichte wie in dem Brief. Ich kann euch versichern: Das funktioniert.«
Simon und ich beschließen, unsere einzige Chance zu nutzen, nämlich die, dass wir Ausländer sind. In einem Brief, den wir unserer Bewerbung um einen Krippenplatz beifügen, brüsten wir uns mit Beans beginnender Mehrsprachigkeit (ehrlich gesagt, spricht sie noch gar nicht) und schreiben, ihr Angloamerikanisch werde die Krippe bereichern. Wie bereits versprochen, spricht Dietlind mit der Leiterin der crêche , in die auch ihr Sohn ging. Ich treffe mich mit dieser Frau und versuche es mit dem Charme der Verzweiflung. Ich rufe einmal im Monat bei der Gemeinde an (Aus irgendeinem Grund bleibt das crêche -Bezirzen wie bei den meisten französischen Paaren auch bei uns ausschließlich an der Frau hängen.), um sie an unser »enormes Interesse und unseren dringenden Bedarf« zu erinnern. Da ich keine Französin bin und hier nicht wählen darf, beschließe ich, den Präsidenten nicht zu belästigen.
Erstaunlicherweise funktionieren diese Bemühungen tatsächlich. Ein Gratulationsschreiben der Gemeinde erreicht uns, in dem steht, dass Bean von Mitte September an einen Krippenplatz hat, wenn sie genau neun Monate alt sein wird. Triumphierend rufe ich Simon an: Wir Ausländer haben die Einheimischen ausgestochen! Wir staunen und sind wie berauscht von unserem Sieg. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, einen Preis
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