Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
sich den ganzen Tag um Bean kümmert. Das Problem ist nur, dass ich von zu Hause aus arbeite und mir in einer kleinen Nische mein Büro eingerichtet habe. So bin ich ständig in Versuchung, beide zu managen, was allen auf den Wecker geht.
Bean scheint schon recht ordentliche Passivkenntnisse von Tagalog, der Muttersprache der Filipinos, zu besitzen. Aber ich habe den Verdacht, dass Adelyn oft Tagalog mit ihr im McDonald’s unseres Viertels spricht, denn jedes Mal, wenn wir daran vorbeikommen, zeigt Bean auf das große M und stößt begeisterte Laute aus. Vielleicht ist eine nicht- fancy crêche doch die bessere Lösung.
Ich staune auch, dass wir dank Dietlind dort schon einen Fuß in der Tür haben. Ich bin daran gewöhnt, alles anders zu machen als der Rest des Landes. Manchmal merke ich erst, dass Feiertag ist, wenn ich das Haus verlasse und feststelle, dass sämtliche Geschäfte geschlossen sind. Ginge Bean in eine crêche , würde uns das mehr mit den Landessitten vertraut machen.
Die crêche ist auch verführerisch bequem. Sie lässt sich in fünf Minuten zu Fuß erreichen. Wie eine der Wäscherinnen aus dem 19. Jahrhundert könnte ich schnell vorbeischauen, um Bean zu stillen und ihre Rotznase abzuwischen.
Doch am schwersten fällt es mir, dem Druck der erwachsenen Franzosen um mich herum zu widerstehen. (Ich kann froh sein, dass sie mich nicht zum Rauchen überreden!) Anne und die anderen französischen Mütter aus unserem Innenhof singen ebenfalls ein Loblied auf die crêche . Simon und ich rechnen uns aus, dass die Chancen, dass Bean tatsächlich aufgenommen wird, trotz Dietlinds Fürsprache eher gering sind. Deshalb gehen wir zu unserem Rathaus und bewerben uns.
»Tagesbetreuung« hört sich für Amerikaner nach Arbeiterschicht an, während sich weiße Mittelschichts-Eltern darum prügeln, ihre zweijährigen Kinder in der Vorschule unterzubringen. Das erklärt auch, warum heutige amerikanische Vorschulen nur wenige Stunden am Tag geöffnet sind. Man geht davon aus, dass die Mütter der Kinder nicht arbeiten müssen oder sich Nannys leisten können.
Doch im Grunde ist das ein Streit um Begrifflichkeiten. »Nennt man es ›Früherziehung von null bis fünf‹, hält man es für lohnenswert«, so Sheila Kamerman, Professorin an der Columbia University, die die Betreuung von Kindern in Tagesstätten seit Jahrzehnten erforscht.
Die Amerikaner quält vor allem auch die Frage, wie sich die gängige Kinderbetreuung auf die fragile Psyche ihres Nachwuchses auswirkt. Es gibt Schlagzeilen, die behaupten, eine solche Kinderbetreuung führe zu Lernschwächen, mache die Kinder aggressiver und schwäche die Bindung zu ihren Müttern. Ich kenne amerikanische Mütter, die lieber aufgehört haben zu arbeiten, als ihre Kinder in eine Tagesstätte zu geben.
Oft sind ihre Sorgen sogar berechtigt, da die Qualität amerikanischer Tagesstätten sehr stark schwankt. Es gibt keine landesweiten Vorschriften und Standards. Einige Staaten setzen keinerlei Ausbildung bei den Betreuern voraus. Das US -Arbeitsministerium sagt, Erzieher verdienten weniger als Hausmeister und die »Unzufriedenheit mit der Bezahlung sowie die anstrengenden Arbeitsbedingungen brächten viele dazu, ihren Beruf aufzugeben.« Eine Personalfluktuation von 35 Prozent ist keine Seltenheit.
Natürlich gibt es auch gute Tagesstätten. Die können allerdings extrem teuer sein oder sind ausschließlich bestimmten Firmenangehörigen vorbehalten.
* * *
Französische Mütter sind fest davon überzeugt, dass die crêche ihren Kindern guttut. In Paris geht ein Drittel aller Kinder unter drei in die crêche , die Hälfte davon in Elternkooperativen. (Außerhalb von Paris gibt es nach wie vor weniger staatliche crêches .) Französische Mütter haben durchaus Angst vor Pädophilen, aber nicht in der crêche . Sie glauben, dass Kinder in einer Umgebung sicherer sind, in der sich mehrere entsprechend ausgebildete Erwachsene um sie kümmern, als in einer, wo sie mit einem Fremden allein sind, das besagt zumindest ein Bericht einer landesweiten Elterninteressenvertretung. »Wenn meine Tochter mit jemandem so viel Zeit unter vier Augen verbringt, dann nur mit mir«, so die Mutter eines anderthalbjährigen Mädchens aus Beans crêche . Hätte es den Krippenplatz nicht bekommen, hätte die Mutter ihren Job aufgegeben.
Auch französische Mütter fürchten sich vor dem Moment, wenn sie ihre Kinder das erste Mal bei der crêche abgeben. Aber sie betrachten das als ihren
Weitere Kostenlose Bücher